Bei einem der schwersten Zugunglücke in Indien sind mindestens 275 Menschen gestorben und Hunderte Menschen verletzt worden. Am Wochenende waren dort, in einer ländlichen Gegend im Bezirk Balasore, gut 200 Kilometer südwestlich von Kolkata im Bundesstaat Odisha, Hunderte Helfer im Einsatz, die erst Überlebende retteten und Leichen bargen und dann begannen, die vielen kreuz und quer liegenden Wracks und kaputten Gleise zu räumen.
Das Ziel sei es, die Räumungsarbeiten bis Mittwoch abzuschließen, sagte Bahnminister Ashwini Vaishnaw der indischen Nachrichtenagentur ANI. Die Ermittlungen zum Unfall mit zwei Passagierzügen und einem Güterzug am Freitagabend dauerten derweil an.
Ein Fehler beim elektrischen Signal
Gleichzeitig versuchten viele Angehörige in verschiedenen Leichenhallen, die Opfer zu identifizieren. Behörden hätten auch Listen und Fotos der Verstorbenen zum Zwecke der Identifikation auf verschiedene Regierungswebsites hochgeladen, hieß es. Angehörige sollten sie demnach aber nicht mit Kindern anschauen. Auch viele Krankenhäuser waren angesichts der vielen Unfallpatienten überlastet. »Die Hilfeschreie der in den entstellten Waggons eingeklemmten Passagiere und die vielen Leichen, die überall herumlagen, werden mich für immer verfolgen«, sagte ein junger Arzt und Ersthelfer der »Times of India«.
Die Ursache für das Unglück sei nach ersten Erkenntnissen wohl ein Fehler beim elektrischen Signal gewesen, wie Bahnminister Vaishnaw der Nachrichtenagentur ANI am Sonntag sagte: »Wir haben die Ursache des Vorfalls und die Verantwortlichen gefunden.« Die Untersuchungen dauerten aber noch an. Ein Passagierzug soll ein falsches Signal erhalten haben und deshalb auf ein Gleis gefahren sein, auf dem ein Güterzug stand, berichtete die »Times of India« unter Berufung auf eine Behördenmitarbeiterin. Er sei mit hoher Geschwindigkeit auf den Güterzug geprallt. Ein zweiter Passagierzug soll demnach anschließend in die entgleisten Waggons gekracht sein.
Es gab kein automatisches Zugsicherheitssystem
Am Samstag versprach Premierminister Narendra Modi bei einem Besuch des Unglücksorts und eines Krankenhauses mit Verletzten, die Schuldigen der Katastrophe hart zu bestrafen. Mehrere Oppositionspolitiker warfen der Regierung nach dem Unfall vor, nicht genügend in die Bahnsicherheit investiert zu haben und forderten unter anderem Bahnminister Vaishnaw zum Rücktritt auf. Dieser verwies darauf, nun sei nicht die Zeit für politische Diskussionen, sondern die, um Hilfe zu leisten.
Auf der betroffenen Strecke sei anders als an anderen Orten noch kein automatisches Zugsicherheitssystem, das Zusammenstöße verhindern soll, in Betrieb gewesen, berichtete die »Times of India« unter Berufung auf die Bahn. Die indische Regierung hatte zuletzt viel in die Verbesserung der Bahn investiert, unter anderem in Schnellzüge. Die Sicherheit schien sich verbessert zu haben. Indien, das bevölkerungsreichste Land der Welt mit rund 1,4 Milliarden Menschen, hat eines der weltgrößten Bahnnetze der Welt. Aber auch weil es historisch gewachsen ist, sind viele Züge weiterhin alt und manche Gleise überholungsbedürftig. Immer wieder kommt es zu Unfällen.
Viele Wanderarbeiter unter den Opfern
In der Vergangenheit gab es in Indien mehrere schlimme Zugunglücke - besonders schlimm waren ein Unglück im Jahr 1981, bei dem mindestens 800 Menschen starben, als ein Wirbelsturm einen überfüllten Zug traf, oder im Jahr 1995, als mindestens 350 Menschen bei dem Zusammenprall zweier Züge starben, wie »India Today« berichtete.
Viele Menschen sind auf Züge angewiesen, unter anderem Wanderarbeiter, die damit auf der Suche nach Arbeit durch das Riesenland reisen. Auch in den am Freitag verunglückten Zügen waren viele Wanderarbeiter, die aus dem ärmeren Osten des Landes in den wohlhabenderen Süden reisten, wie lokale Medien berichteten.
Zu der Bahnkatastrophe kondolierten Politiker und Staatschefs rund um die Welt - darunter US-Präsident Joe Biden, der britische Premierminister Rishi Sunak, dessen Familie indische Wurzeln hat, Papst Franziskus und Bundeskanzler Olaf Scholz. Scholz schrieb auf Twitter: »Das Zugunglück in Indien mit Hunderten Toten und Verletzten erschüttert mich zutiefst. Meine Gedanken sind bei den Opfern, Verletzten und ihren Familien. Deutschland steht an der Seite Indiens in dieser schweren Zeit.« In Deutschland gedachten am Wochenende Menschen auch des Unglücks von Eschede, das schwerste Bahnunglück in der bundesdeutschen Geschichte. Am 3. Juni 1998 waren dabei in Niedersachsen 101 Menschen ums Leben gekommen.
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