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Rollstuhlfahrerin macht mit Tiktok-Kampagne mobil

Vietnams Hauptstadt Hanoi ist für Menschen mit Handicap ein Alptraum. Barrierefreiheit? Von wegen! Viele Bürger, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, verlassen ihre Häuser kaum. Eine Aktivistin will das nicht länger hinnehmen - und macht per Tiktok mobil.

Rollstuhlfahrerin in Hanoi
Hieu Luu, die für die UN als Anlaufstelle für Behinderte arbeitet, hat eine Kampagne für mehr Barrierefreiheit in Vietnam gestartet. Foto: Chris Humphrey
Hieu Luu, die für die UN als Anlaufstelle für Behinderte arbeitet, hat eine Kampagne für mehr Barrierefreiheit in Vietnam gestartet.
Foto: Chris Humphrey

Wenn Hieu Luu ihr Haus in Hanoi verlässt, wartet ein fast unüberwindbarer Berg an Problemen auf sie. Die Gehwege von Vietnams Hauptstadt sind mit Löchern und Essensständen übersät. Über die chronisch verstopften Straßen knattern unzählige Motorroller und Autos. Sich in der Metropole fortzubewegen ist schon für Menschen ohne Handicap eine Herausforderung.

Aber Hieu Luu leidet an Zerebralparese und ist auf einen Rollstuhl angewiesen. Viele Bürger mit Behinderungen bleiben vor lauter Hürden lieber zu Hause. Nicht so die 32-Jährige. Sie macht offen auf die Missstände aufmerksam. Mit Erfolg: Hieu Luus Tiktok-Videos werden millionenfach geklickt.

Sie wird von Busfahrern einfach ignoriert

Ob das Überqueren einer Straße oder der oft unmögliche Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln, Behörden und Geldautomaten: Die Vietnamesin zeigt unter dem Namen »@crazy_freewheeler« unerschrocken, womit Menschen mit Behinderungen in der Millionenmetropole täglich zu kämpfen haben. »In den meisten meiner Videos geht es um Barrierefreiheit«, sagt sie. Aber sie filmt auch, wie sie etwa an der Haltestelle von Busfahrern einfach ignoriert wird. »Bis jetzt habe ich 20 Clips gemacht, hauptsächlich in Vietnam, aber auch in Japan.« Zwei gingen auf Tiktok viral und bekamen Hunderttausende Likes.

Inmitten der Corona-Pandemie verbrachte Hieu ein gutes Jahr in Japan - im Rahmen des Duskin-Leadership-Programms, das Menschen mit Handicap aus der Asien-Pazifik-Region im Land der aufgehenden Sonne zu Fachkräften ausbildet. Die beeindruckende Barrierefreiheit und Zugänglichkeit, die ihr dort begegneten, öffneten ihr die Augen dafür, dass es auch anders geht als in Hanoi. In Japan konnte sie sogar im Rollstuhl Ski fahren. Ihre positiven Erfahrungen stellt sie in ihren Clips den Zuständen in Vietnam gegenüber.

Es gibt kaum Infos zu den Verkehrsmitteln

»Als ich nach Vietnam zurückkam, konnte ich überhaupt keine Informationen zum Thema Barrierefreiheit finden«, erzählt sie. Ein Riesenproblem seien etwa die Busse. »Es wird nicht angezeigt, welche über eine ausklappbare Rampe verfügen und welche nicht. Ich musste selbst lernen, welche Busse ich benutzen kann.« Kurzentschlossen kontaktierte sie auch Busunternehmen und zeigte ihnen ihre Videos.

»Die meisten Menschen, die in Hanoi mit dem Bus fahren, gehören Minderheiten an«, sagt Hieu. »Alte Leute, Kinder, Leute, die nicht Motorrad fahren können, und Leute wie ich. Warum werden wichtige Informationen nicht mit diesen Zielgruppen geteilt?«

VinBus ist eine von nur zwei Betreiberfirmen in der Stadt, deren Busse Zugangsrampen haben. Und die Verantwortlichen reagierten und antworteten der Tiktokerin auf ihre Anfrage. Das Unternehmen versprach, künftig mehr Informationen zur Barrierefreiheit zu teilen und Menschen mit Handicap in die Marketingvideos einzubeziehen.

Laut eines Berichts des Kinderhilfswerks Unicef aus dem Jahr 2019 leben 6,2 Millionen Menschen mit Handicap in Vietnam, etwa sieben Prozent der Bevölkerung. Die Regierung des kommunistischen Landes hatte 2010 ein Gesetz zu ihrer Gleichstellung erlassen. Damit sollte sichergestellt werden, dass sie an allen Bereichen der Gesellschaft teilnehmen können. Aber das Gesetz wird selten durchgesetzt - und spricht das Thema Diskriminierung gar nicht an.

Viele Rollstuhlfahrer bleiben zu Hause

Hieu leitet eine Selbsthilfegruppe für etwa 50 Menschen mit Zerebralparese. Sie ermutigt die Mitglieder, ebenfalls mehr auszugehen - trotz aller Hindernisse. Denn wegen der verbreiteten Diskriminierung und der Unzugänglichkeit wichtiger öffentlicher Dienste bleiben viele Rollstuhlfahrer die meiste Zeit aus Angst zu Hause, oder - und auch das ist eine Folge der Zustände - sie werden von ihren Familien kaum aus dem Haus gelassen.

Einer der Teilnehmer der Gruppe ist Dinh Quoc Tuan. Für lange Strecken benötigt er einen Spezialtransporter, von dem es aber im ganzen Land nur einen einzigen gibt. Trotzdem lebt er seit zwölf Jahren unabhängig von seiner Familie.

Auch Tuan hat schon Kampagnen durchgeführt, damit Dienstleister wie Banken und öffentliche Verkehrsmittel ihre Haltung gegenüber Minderheitengruppen ändern. »Größtenteils ist Hanoi für Menschen mit Behinderungen nicht zugänglich. Es ist sehr schwierig, sich fortzubewegen«, sagt er. Und von der Regierung gebe es keinerlei Unterstützung etwa für persönliche Assistenten.

Stattdessen bekommt er jeden Monat eine Million vietnamesische Dong (38 Euro) als Hilfe. »Das ist aber nicht genug. Was mein Leben einfacher machen würde, wären zugängliche Verkehrsmittel und ein stabiles Einkommen«, erzählt er. In seinem Kampf um mehr Gerechtigkeit und weniger Benachteiligung in der vietnamesischen Gesellschaft will er ebenso wenig nachlassen wie Hieu Luu.

Denn noch bewegt sich wenig. Aber vielleicht können Millionen von Tiktok-Klicks ja tatsächlich für das Thema sensibilisieren. »Seit zwölf Jahren haben wir ein Behindertengleichstellungsgesetz, und trotzdem scheint niemand zu wissen, was Barrierefreiheit bedeutet«, sagt Hieu. Es sei nicht leicht, sich als Rollstuhlfahrer ins Leben von Hanoi zu trauen. Aber das sei letztlich das Ziel der Clips: zu zeigen, dass niemand sich verstecken muss - und anderen Mut zu geben.

TikTok-Video zu Bussen

TikTok-Video zu Bussen

TikTok-Video zum Überqueren von Straßen in Vietnam und Japan

Unicef-Bericht zu Menschen mit Handicap in Vietnam

© dpa-infocom, dpa:221129-99-704233/4