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Reform zur Wiederaufnahme von Strafverfahren gekippt

Darf jemand für dasselbe Verbrechen zweimal angeklagt werden? Gegen Protest hat der Bundestag Regeln dazu gelockert. Das höchste deutsche Gericht verweist in seinem Urteil auch auf Erfahrungen aus der Zeit der Nazis.

Bundesverfassungsgericht
Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Foto: Uli Deck/DPA
Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.
Foto: Uli Deck/DPA

Einmal aus Mangel an Beweisen freigesprochen, können selbst Mörder und Kriegsverbrecher in Deutschland gewiss sein, dass ihnen nicht nur auf Basis neuer Fakten noch einmal der Prozess wegen derselben Tat gemacht wird.

Das Bundesverfassungsgericht kippte in Karlsruhe eine Reform der Strafprozessordnung aus dem Jahr 2021, die das möglich gemacht hatte. Geklagt hatte ein Mann, der vor mehr als 40 Jahren in Niedersachsen eine Schülerin umgebracht haben soll und wegen neuer Beweise wieder angeklagt wurde.

Das Wiederaufnahmeverfahren müsse beendet werden, sagte die Vorsitzende Richterin Doris König. Die Reform der Strafprozessordnung (Paragraf 362) sei verfassungswidrig und nichtig (Az. 2 BvR 900/22).

Wie sah die Änderung aus?

Mit der heftig umstrittenen Reform konnten Tatverdächtige noch einmal belangt werden, wenn »neue Tatsachen oder Beweismittel« auftauchen. Die Regelung war auf schwerste Verbrechen wie Mord, Völkermord und Kriegsverbrechen beschränkt, die nicht verjähren.

Der Bundestag hatte das zu Zeiten der großen Koalition von Union und SPD beschlossen. Vorher war es nur in wenigen Fällen möglich, ein rechtskräftig abgeschlossenes Verfahren zuungunsten des Angeklagten aufzurollen - etwa bei einem Geständnis. Daran ändert sich nichts.

Warum hat das Gericht so entschieden?

König erklärte, das Grundgesetz enthalte im Artikel 103 nicht nur ein bloßes Mehrfachbestrafungs-, sondern ein Mehrfachverfolgungsverbot. »Dieses schützt nicht nur bereits einmal verurteilte, sondern auch freigesprochene Personen vor einem erneuten Strafverfahren.«

Ein Betroffener »soll und muss darauf vertrauen dürfen, dass er nach dem Abschluss eines regelgemäß durchgeführten strafgerichtlichen Verfahrens nicht nochmals wegen derselben Tat vor Gericht gestellt werden kann«, sagte die Vizepräsidentin des Verfassungsgerichts. Das Verbot verhindere, »dass er zum bloßen Objekt der Ermittlung des wahren Sachverhalts gemacht wird und nach einem rechtskräftigen Freispruch ständig damit rechnen muss, erneut einem Strafverfahren mitsamt den damit verbundenen Belastungen unterzogen zu werden«.

König verwies auf die Willkürherrschaft des Nationalsozialismus, unter der das Prinzip der Rechtskraft uferlos durchbrochen wurde. Davon seien gerade auch Freigesprochene betroffen gewesen. Der Grundsatz im Grundgesetz habe dem entgegenwirken sollen.

Worum ging es im konkreten Fall?

Anlass für die Prüfung war der Mordfall Frederike. Ein Mann soll die 17-Jährige aus Hambühren 1981 vergewaltigt und erstochen haben. Das konnte ihm damals nicht nachgewiesen werden. 1983 wurde er rechtskräftig freigesprochen. Nach einer neuen DNA-Untersuchung einige Jahrzehnte später könnte er aber doch der Täter sein.

Ihm sollte der Prozess gemacht werden. Er legte Verfassungsbeschwerde ein. Das Bundesverfassungsgericht stoppte den Prozess am Landgericht Verden. Der Mann kam - zunächst unter Auflagen - auf freien Fuß.

Frederikes Vater hatte bis zu seinem Tod für eine Reform der Strafprozessordnung gekämpft. Unter anderem stellte er eine Petition dafür ins Internet, die rund 180.000 Menschen unterschrieben. Inzwischen verfolgt Frederikes Schwester das Anliegen weiter.

Sie fühle sich als Opfer sehr alleingelassen, sagte Anwalt Wolfram Schädler nach der Verkündung. Bei der mündlichen Verhandlung im Mai hatte die Schwester über den Anwalt emotionale Worte an den Senat gerichtet: »Ihr Tod verjährt nicht in unserer Familiengeschichte.« Zeit schaffe keinen Frieden, der Schmerz werde nicht weniger.

Wie fallen die Reaktionen auf das Urteil aus?

»Das ist kein Tag der Gerechtigkeit«, sagte Schädler. Weder für die Familie noch für viele Menschen, die gehofft hätten, dass jemand nach einem falschen Freispruch doch noch überführt werden kann. »Der Täter kann sich nicht zurücklehnen«, betonte der ehemalige Bundesanwalt. Sie wollten weiter versuchen, jemanden zu finden, dem gegenüber er ein Geständnis abgegeben hat. »Das ist ja nach wie vor möglich.«

Der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Johannes Fechner, verteidigte die Reform: »Denn es scheint uns unerträglich, dass ein Täter einer unverjährbaren Tat wie Mord, dem nach vorherigen Freispruch die Tat doch noch nachgewiesen werden kann, nicht in einem zweiten Verfahren verurteilt werden kann.« Man werde aber nicht versuchen, die Reform durch eine Grundgesetzänderung doch umzusetzen.

Der Deutsche Anwaltverein (DAV) begrüßte das Urteil. Das Gesetz habe eine unbegrenzte Möglichkeit zur Wiederaufnahme von Mordverfahren geschaffen und Freisprüchen die Rechtskraftwirkung genommen.

Der frühere DAV-Präsident Ulrich Schellenberg, der sich in einer Initiative gegen die Reform engagiert hatte, zeigte sich erleichtert: »Das Urteil zeigt, wie schlecht beraten die Politik ist, wenn sie insbesondere in der Rechtspolitik populistischem Druck nachgibt.«

Ähnlich äußerte sich Johann Schwenn, Anwalt des Beschuldigten: »Der Gesetzgeber sollte sich bewusst sein, dass es sich im Strafverfahren nicht empfiehlt, auf mediale Forderungen einzugehen und diese zum Teil im Wortlaut zu übernehmen.« Die Tat sei seinem Mandanten nach wie vor nicht nachgewiesen worden, betonte Schwenn.

Ist eine Wiederaufnahme woanders möglich?

In vielen Ländern auch innerhalb der EU gibt es Regeln zur Wiederaufnahme von Strafverfahren zuungunsten Angeklagter. Just am Tag der Verhandlung im Mai war beispielsweise in England ein Mann wegen Mordes verurteilt worden - rund 30 Jahre nach einem Freispruch.

Stellt sich das Gericht der Kritik?

Dem Senat sei bewusst, »dass dieses Ergebnis für die Angehörigen der 1981 getöteten Schülerin und insbesondere für die Nebenklägerin des Ausgangsverfahrens schmerzhaft und gewiss nicht leicht zu akzeptieren ist«, sagte Richterin König. In dem Verfahren sei es aber nicht um den konkreten Fall gegangen, sondern um den Umgang mit dem grundlegenden rechtsstaatlichen Grundsatz, dass niemand zweimal wegen derselben Sache vor Gericht gestellt werden kann (»ne bis in idem«).

Dem Senat sei die Entscheidung nicht leichtgefallen, betonte König zum Abschluss. So teilten Richterin Christine Langenfeld und Richter Peter Müller in einem sogenannten Sondervotum auch nicht die Meinung der Senatsmehrheit, dass das Grundgesetz ganz prinzipiell Ergänzungen bei den Gründen für eine Wiederaufnahme entgegenstünde.

Der gesamte Senat war aber der Ansicht, dass die Reform auf keinen Fall rückwirkend gelten durfte - also nicht für den Fall Frederike.

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