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Aktuell INTERVIEW

Projektleiterin des Goethe-Instituts in Kiew über ihre Flucht nach Berlin

Olena Lykhovodova, Projektkoordinatorin des Goethe-Instituts in Kiew, berichtet über ihre Flucht nach Berlin

Seit ihrer Flucht arbeitet Olena Lykhovodova   von Berlin aus an ihren Projekten für das Goethe-Institut.
Seit ihrer Flucht arbeitet Olena Lykhovodova von Berlin aus an ihren Projekten für das Goethe-Institut. Foto: Privat
Seit ihrer Flucht arbeitet Olena Lykhovodova von Berlin aus an ihren Projekten für das Goethe-Institut.
Foto: Privat

BERLIN. Sein altes Leben zurücklassen, ohne zu wissen, wann ein Zurückkommen in die alte Heimat wieder möglich ist, wurde für Dr. Olena Lykhovodova – wie auch für Millionen von Ukrainern – zur bitteren Realität. Im Interview mit dem GEA schildert die Projektkoordinatorin des deutschsprachigen Goethe-Instituts in Kiew und neuerdings Programmrefer-entin des Projekts »Goethe-Institut im Exil« in Berlin ihre ganz persönlichen Eindrücke von der Flucht nach Berlin.

GEA: Was haben Sie vor der Flucht nach Berlin beim Goethe-Institut genau gearbeitet?

Olena Lykhovodova: Im Bereich Bildende Kunst, Literatur und Öffentlichkeitsarbeit empfinde ich mich als Brückenbauerin für die Kultur. Die ist meine Leidenschaft, und die deutsche und die ukrainische Kultur verbinden zu wollen. Den Job betrachte ich nicht als Arbeit, sondern als Glücksfall, weil meine Interessen damit verbunden sind. Das Thema Oper und Ballett, also das, was mir sehr am Herzen liegt, kommt von meiner vorherigen Tätigkeit bei der Österreichischen Botschaft in Kiew. In diesem Zusammenhang möchte ich sagen, dass in dieser momentanen, schwierigen Kriegszeit viele ukrainische Opernsänger im Exil in Deutschland leben. Die haben sozusagen ihre eigene Szene verloren.

»Ich sehe mich als Brückenbauerin für die Kultur«

Wie sehr war der Angriff Russlands aus Ihrer Perspektive abzusehen?

Lykhovodova: Der Kriegsbeginn war surreal, wie ein Albtraum, den wir bis jetzt noch nicht fassen können. Über einen wirklichen Krieg wurden wir schon seit Anfang Februar informiert. Als es hieß, der Krieg hat begonnen, und sich die Menschen mehr Sorgen machten, haben sich Familienangehörige und Freunde kontaktiert. Das ist nur eine psychologische Attacke und kein richtiger Angriff, hörte man in Cafes oder auf der Straße. Noch in Zeiten der Pandemie haben wir weiter versucht, normal zu leben. Und dann kam der 24. Februar. Ich kann sagen, eine Explosion hat mich geweckt. Mein erster Gedanke war eine hydrologische Katastrophe, dass vielleicht etwas in Tschernobyl passiert ist. Dann habe ich es in Chats gesehen, überall haben die Nachrichten über eine massive Invasion berichtet. Das war ein Schock. Unter Kollegen haben wir uns gegenseitig angerufen, wir wurden alarmiert. In einer Minute hat sich die Welt für uns fundamental verändert. Krieg war plötzlich Realität, und danach ging die Hölle los.

Wann haben Sie die Entscheidung getroffen, die Ukraine zu verlassen?

Lykhovodova: Wir konnten nicht sofort fliehen, denn meine Mutter und ich waren mit Covid in Quarantäne. Es war wie in einem tiefen und heißen Krieg, überall waren Checkpoints. Da war ein bewaffneter Fahrer, als wir ins Krankenhaus fahren mussten, und der Arzt hatte eine Kalaschnikow im Behandlungszimmer – auf jeder Etage waren Schützen.

Und was geht einem bei solchen Bildern durch den Kopf?

Lykhovodova: Einmal gab es ein Feuergefecht nur 150 Meter von unserem Zuhause. Die russischen Soldaten kamen die Straße herunter und man muss sich vorstellen, die haben unterwegs alles geplündert und angezündet. Wir konnten nicht in den Bunker, weil wir beide Angst hatten, die anderen mit Corona anzustecken. Und dann saßen wir stundenlang im Bad, weil es hieß, das sei die sicherste Stelle in der Wohnung.

Hatten Sie Angst um Ihr Leben?

Lykhovodova: Ich werde nie den Gedanken vergessen, als ich das Gefühl hatte, das war jetzt das Ende. Aber irgendwann stellt sich dein Nervensystem darauf ein, dass du dir keine Sorgen mehr machen musst, dass du keine Angst mehr hast. Dann nimmt man die Situation hin und versuchst nur noch, das Beste draus zu machen.

Wie gelang dann letztendlich die Flucht aus Kiew?

Lykhovodova: Also ich habe nicht unbedingt geplant, wegzureisen. Am 16. März wurde ich zum dritten Mal von der Institutsleitung gefragt, ob ich mit in den Zug möchte. Das war die allerletzte Möglichkeit. Um uns rund 100 Mitarbeiter vom Goethe-Institut haben sich alle, zum Beispiel der Vorstand und die Institutsleitung, die Delegation der Europäischen Union oder die Deutsche Botschaft in Kiew, gut gekümmert und es gab einige Möglichkeiten der Evakuierung. Aber ganz besonders möchte ich meine Dankbarkeit für die so große Unterstützung an meine ukrainischen und deutschen Kollegen und Freunde weltweit, von Indien über Brasilien bis nach Griechenland, aussprechen. Es gab einen Sonderwagon für Diplomaten, also Vertreter der internationalen Gemeinschaft. Wir wurden zum Bahnhof von Kiew in ein Geheimdepot gebracht, wo wir wegen anhaltender Bombardierung der Gleise acht Stunden warteten.

Danach ging es endlich los?

Lykhovodova: Wir sind rausgerollt, haben den Zug aber gestoppt. Vorn an der Plattform waren so viele Frauen mit ihren Kindern, da ging es einfach nicht, einen Sonderwagon mit noch Platz zu haben. Alle wurden reingelassen, mit Säuglingen oder kleinen Haustieren. In einem Zugabteil mussten dann um die 25 Leute Platz finden – ohne Licht und Handy, damit wir nicht gefunden werden können. Und das hat 30 Stunden gedauert, bis wir an der polnischen Grenze angekommen sind. Von dort wurden wir von unseren lieben Freunden Roland und Jakub abgeholt.

»Dein Nervensystem stellt sich darauf ein, dass du keine Angst mehr hast«

Von Polen ging es dann nach Berlin?

Lykhovodova: Ja genau, richtig. Am Anfang sind meine Mutter und ich bei den Freunden einer Freundin untergekommen. Als das aber nicht mehr ging, weil das Haus vermietet werden musste, bin ich auf die Website für Flüchtlinge gegangen. Die drei Wochen Wohnungssuche waren super kritisch, obwohl ich Kontakte habe. Zum Glück konnten wir aber rechtzeitig eine Notunterkunft finden. Da habe ich in einer Wohnung gewohnt mit acht Menschen und zwei kleinen Kindern. Aber trotzdem – ich erinnere mich an diese Zeit mit unheimlicher Dankbarkeit. Ehrenamtliche Helfer haben uns aufgenommen.

Ihre Reise durch Berlin war dort aber nicht vorbei?

Lykhovodova: Man könnte sagen, ich hatte Glück. Der Liebe Gott hat mich sozusagen ins Paradies gebracht. Die Künstlerin Christina Brüne hat mir zumindest vorrübergehend die Möglichkeit gegeben, mich auf die wichtigen Dinge konzentrieren zu können. Wir wohnen in einem wunderschönen Haus in Falkensee mit viel Wärme und Liebe.

Und wie gefällt Ihnen Berlin? Waren Sie davor schon einmal da?

Lykhovodova: Berlin ist sozusagen meine zweite Heimat. Vor ein paar Jahren habe ich in Berlin Kunstgeschichte studiert und hier promoviert. Das ging damals mit einem Stipendium der Konrad Adenauer Stiftung, wofür ich Deutschland einfach sehr dankbar bin und mich emotional eng mit dem Land verbunden fühle. Meine beste Studienfreundin aus Polen, Monika, wohnt hier. Für Deutschland habe ich mich schon seit der Schulzeit interessiert. Für ukrainische Künstlerinnen und Künstler im Exil in Deutschland Angebote zu bekommen, diese zu unterstützen, ist momentan in meiner Arbeit beim Projekt »Goethe-Institut im Exil« das Wichtigste.

Was waren in der Ukraine und jetzt hier in Deutschland Ihre einprägsamsten Beobachtungen?

Lykhovodova: Vor allem die Werte haben sich in der Gesellschaft schlagartig verändert. Bei jedem hat sich in der Extremsituation gezeigt, wer er wirklich ist. Probleme gab es viele, die Ukraine hat viele Probleme mit Korruption gehabt. Momentan hat der Krieg aber alles bereinigt. Obwohl es die Raketen und die Explosionen gab, macht jeder seinen Job. Die Gesellschaft hat sich zusammengetan. Menschen kämpfen um ihre Existenz, damit es die Ukraine überhaupt gibt und das so bleibt, mit riesiger Unterstützung aus der ganzen Welt. Und diese Solidarität aus der ganzen Welt ist super wichtig, denn die Ukraine kämpft für die ganze Welt. Man muss verstehen: wenn die Ukraine fällt, fällt auch Europa. (GEA)