REUTLINGEN. Gibt es Liebe auf den ersten Blick? Yvi Blum schmunzelt. »Naja. Es gibt auf jeden Fall ein sehr intensives Gefühl auf den ersten Blick ... Die absolute Hirnvergiftung sozusagen.« Das Bindungssystem werde aktiviert, wenn man einen Menschen kennenlernt, der einem gefällt. Das Glückshormon Dopamin wird ausgeschüttet, es sorgt dafür, »dass wir das unbedingt wollen, was vor unseren Augen ist«, wie es Blum ausdrückt. Aber Liebe? »Liebe braucht Zeit. Sie ist eine Entscheidung für Verbindung. Liebe wächst, wenn wir uns verletzlich zeigen voreinander.« Blum ist Paartherapeutin, ausgebildete Journalistin, auf Instagram folgen ihr mehr als 113.000 Menschen. Sie hat ein Buch über das Thema Liebe, Bindung und Bindungsmuster geschrieben, es heißt »New love, same shit«. Also »Neue Liebe, gleicher Mist«. Nicht unbedingt ein romantischer Blick aufs Thema Partnerwahl, oder?
Zumindest das Gefühl von »Schmetterlingen im Bauch« ordnet die 39-Jährige fix kritisch ein. »Das kann schon ein Ausdruck von echter Resonanz sein«, sagt sie. »Aber es kann schlichtweg auch ein Hinweis darauf sein, dass dein Bindungssystem aktiviert wird. Also Schmetterlinge können Hinweis auf ein schmerzhaftes Muster aus unserer Vergangenheit sein.« Heißt etwas verknappt dargestellt: Die Person des Begehrens ähnelt vom Charakter oder vom Verhalten her den eigenen Eltern oder anderen Bezugspersonen aus der Kindheit. Und damit wäre eigentlich auch direkt die grundsätzliche Frage geklärt, die sich viele Menschen sicher schon einmal gestellt haben: Ist es wirklich Zufall, in wen wir uns verlieben? Nein, sagt Blum. »Denn unsere Partnerwahl ist immer geprägt von biografischen Erfahrungen. Davon, wie das emotionale Klima in der Kindheit war und wie wir als Kinder Beziehung gelernt haben.«
»Das kann dazu führen, dass man als Erwachsener einen ganz starken Wunsch nach Nähe hat«
Ein Kind, das mit unberechenbaren Eltern aufgewachsen ist, hat gelernt, dass es sich bemühen muss, um Nähe zu bekommen. »Das kann also dazu führen, dass man als Erwachsener einen ganz starken Wunsch nach Nähe hat, dass man schnell eine emotionale Abhängigkeit vom Gegenüber entwickelt«, erklärt Blum. Bedeutet: Das Verhalten des (Dating-)Partners kann schnell die ganze eigene Stimmungslage beeinflussen. Kinder, die in einer Umgebung aufgewachsen sind, in der Konflikte vermieden wurden oder aber schnell eskaliert sind, lernen: Diskussionen sind gefährlich beziehungsweise sinnlos. »Diese Menschen streben als Erwachsene dann sehr nach Harmonie«, sagt Blum. Sie versuchen, es allen und jedem recht zu machen, Auseinandersetzung zu vermeiden, und suchen sich einen Partner, mit dem das möglich ist. Oder sie ordnen sich ihrem Partner unter.
Wogegen Kinder, die von ihren Eltern eine übermäßige Verantwortung aufgebürdet bekommen haben (»Parentifizierung«), laut Blum folgendes lernen: »Ich bin nur wertvoll, wenn ich funktioniere und andere rette.« Als Erwachsene nehmen diese Menschen in Beziehungen dann meist eine »Helferrolle« ein, sie suchen sich einen Partner, den sie »retten« können. »Diese Menschen fühlen sich in Beziehungen auch oft super erschöpft, weil sie eben denken, sie müssen die Verantwortung für alles übernehmen.« Kinder, deren Eltern sich dagegen ambivalent und unberechenbar verhalten, »gehen immer wie auf Eierschalen. Sie entwickeln die tiefe Angst, nicht genug zu sein und verlassen zu werden«, wie Yvonne Blum erklärt. Was sich im Erwachsenenalter dann beispielsweise in großer Eifersucht ausdrücken kann. Und Kinder, die lernen, dass bei Konflikten Strafe droht, weichen als Erwachsene oft »unangenehmen Gesprächen aus«, wie die Paartherapeutin weiß. »In ihnen ist verankert: Wenn ich mich zeige, wie ich wirklich bin, dann verliere ich diese Verbindung.«
»Unser Gehirn liebt das Vertraute. Auch wenn es schmerzhaft war«
Hört sich jetzt alles nicht unbedingt zielführend an. Wieso entscheidet man sich bei der Partnerwahl also immer wieder für altbekannte (und meist schmerzhafte) Muster? »Unser Gehirn liebt das Vertraute. Auch wenn es schmerzhaft war«, sagt Yvonne Blum. Sigmund Freud hat einst den Begriff des Wiederholungszwangs definiert. »Wir wollen traumatische Erfahrungen wiederholen, um, so eine Theorie, endlich das Happy End zu schreiben, was wir uns einst gewünscht haben«, erklärt Blum. Als Erwachsener versuche man die Kontrolle zu erlangen, die man als Kind nicht hatte. Man wolle es ein Stück weit besser machen, als die Eltern, oder das eigene Kindheits-Ich.
Sind wir also alle Opfer unserer Vergangenheit? Auf diese Frage schüttelt die Paartherapeutin energisch den Kopf: »Diese Prägung ist kein Schicksal. Sie ist vielmehr ein Startpunkt.« Ja - die Kindheit habe Einfluss auf die Partnerwahl und auch darauf, wie man später eine Beziehung führt, wie man Lösungen sucht, wie man streitet und sich wieder versöhnt. Aber diese Prägungen aus der Vergangenheit seien nicht unausweichlich für immer in unserem Verhalten verankert. Blum sagt, dass sich das Nervensystem durch neue Erfahrungen durchaus »überschreiben« lasse. Sie rät: »Das größte Geschenk, das man sich machen kann, ist: Sich mit sich selbst auseinanderzusetzen.« Zu bemerken, dass einen bestimmte Verhaltensweisen triggern, dass bestimmte Situationen immer nach demselben Muster ablaufen.
»Diese Prägung ist kein Schicksal. Sie ist vielmehr ein Startpunkt«
Wer noch keinen Partner hat, kann beispielsweise in eine Kennenlernphase ein wenig Rationalität reinbringen, sagt Blum. Man kann versuchen, sich nicht nur vom Bauchgefühl und den Hormonen leiten zu lassen. »Wir können uns drauf trainieren, bewusste Entscheidungen zu treffen.« Kurzer Realitätscheck also: Stimmen die Ziele und Pläne von mir und der Person des Begehrens wirklich überein? Haben wir ähnliche Vorstellungen vom Leben? Oder fesseln halt mich eben doch primär das Aussehen und die Verhaltensweisen, die unterbewusst an die eigene Kindheit erinnern? Auch für Menschen, die bereits in einer Beziehung sind, lohne es sich, sich mit den Bindungsmustern auseinanderzusetzen, sagt die Paartherapeutin. »Die meisten Paare kommen viel zu spät in die Therapie.« Sie rät dagegen zur Prophylaxe: »Man kann beispielsweise ein- oder zweimal im Jahr einfach einen Check-up bei einer Paarberatung machen. Das ist ein schönes Zeichen, mit dem man zeigen kann: Unsere Beziehung ist mir so wichtig, dass ich in sie investiere.«
Frauen suchen sich Männer, die ihren Vätern ähneln: Dieser Volksweisheit stimmt Blum also durchaus zu, auch Männer suchen sich unbewusst Partnerinnen, die an die eigene Mutter erinnern. Es gehe hier weniger ums Geschlecht, als mehr um bestimmte Dynamiken. Und wie sieht's aus mit dem viel zitierten »Gegensätze ziehen sich an«? Da muss die Paartherapeutin nochmal schmunzeln. »Ich pflege zu sagen: Gegensätze ziehen sich an und Gemeinsamkeiten ziehen sich aus.« In Gegensätzen liege sicher ein gewisser Reiz, »aber eben auch ein großes Konfliktpotenzial«. Die wichtigeste Voraussetzung fürs Gelingen einer Beziehung sei aber sowieso die Bereitschaft, »miteinander zu wachsen«. (GEA)