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Overtourism versus Nachhaltigkeit - Sylt sucht seinen Weg

Höher, schneller, weiter - und dann eine Vollbremsung. Auf Sylt hieß die Devise lange Zeit, Wachsen um jeden Preis. Die Corona-Pandemie hat nun etwas an die Oberfläche gebracht, was schon lange gärte.

Sylt
In vier Modellregionen in Schleswig-Holstein sollen die Tourismusbetriebe eine schrittweise Lockerung der Corona-Schutzmaßnahmen erproben. Das Modellprojekt auf Sylt startet am 1. Mai und ist zunächst bis zum 31. Mai vorgesehen. Foto: Axel Heimken/dpa
In vier Modellregionen in Schleswig-Holstein sollen die Tourismusbetriebe eine schrittweise Lockerung der Corona-Schutzmaßnahmen erproben. Das Modellprojekt auf Sylt startet am 1. Mai und ist zunächst bis zum 31. Mai vorgesehen. Foto: Axel Heimken/dpa

SYLT. Noch ist es auf Sylt ruhig. Reisen auf eine der Lieblingsinseln der Deutschen sind bis auf Ausnahmen seit Monaten nicht möglich. Nach dem Beherbergungsverbot im Frühjahr 2020 und dem Gästeansturm danach im Sommer musste der Betrieb Anfang November erneut heruntergefahren werden.

Am 1. Mai fährt Sylt nun als Teil der Modellregion Nordfriesland den Tourismus langsam und mit strengen Auflagen wieder hoch. Die Teilnahme ist auf der Insel durchaus umstritten und bringt erneut einen Konflikt an die Oberfläche, der schon lange auf der Insel gärte und im vergangenen Jahr nach dem Hochfahren des Tourismus von Null auf Hundert im Sommer hochkochte. Die Corona-Krise habe das Leben auf der Insel nachhaltig verändert und den Ruf nach einer neuen Qualität des Tourismus verstärkt, schreibt der Chef der Sylt Marketing, Moritz Lust, in der Publikation »Kurs Sylt«. Das sei Fakt. Der Versuch einer Bestandsaufnahme:

DIE INSEL: Ist 99 Quadratmeter groß und zu einem Drittel mit Dünen bedeckt. Zehn Naturschutzgebiete verteilen sich auf rund 50 Prozent der Inselfläche. Zwölf Orte gibt es auf Sylt: Die amtsangehörigen Gemeinden Kampen, List, Hörnum und Wenningstedt-Braderup sowie die Gemeinde Sylt, zu der die Orte Westerland, Tinnum, Keitum, Archsum, Morsum, Rantum und Munkmarsch gehören. Knapp 20 000 Menschen leben auf der Insel. Tausende pendeln zudem täglich zum Arbeiten vom Festland nach Sylt. Viele, weil Wohnraum auf der Insel teuer ist.

TOURISMUS: Vom Luxushotel bis hin zu Campingplatz und Jugendherberge, vom Sternerestaurant bis zur Fischbrötchenbude, ob Naturliebhaber, Surfer, Gourmet oder Golfer, auf Sylt ist für jeden etwas dabei. Die Zahl der Gäste hat sich in den vergangenen 30 Jahren fast verdoppelt: von knapp 522 000 im Jahr 1990 auf etwa 961 000 im Jahr 2019. Zugleich ist die durchschnittliche Aufenthaltsdauer von 10,3 auf 7,45 Übernachtungen gesunken, wie Statistiken der Gemeinden zeigen.

»Das führt zu einer Unausgewogenheit des Verhältnisses zwischen Einheimischen und Gästen sowie auch Zweitwohnungsbesitzern«, findet die Keitumer Goldschmiedin Birte Wieda, die gemeinsam mit Mitstreitern im vergangenen Jahr das Bürgernetzwerk »Merret reicht's - aus Liebe zu Sylt« gegründet hat. »Dieses Entfremdungsproblem wird umso größer, je mehr man feststellt, dass nicht mehr die Einheimischen die Beherbergungsbetriebe neu bauen und leiten, sondern Fremde - zunehmend gar unpersönliche Investmentfonds. Die Sylter selbst profitieren schon lange nicht mehr vom Overtourism«, sagt Wieda. Vielmehr machten sich große und kleine Immobilieninvestoren von überallher die Wertschöpfung auf der Insel zunutze: »Das Kapital wird hier aufgebaut und abgeschöpft.«

Der Vorsitzende des Vereins Sylter Unternehmer, Karl Max Hellner, betonte hingegen, die meisten Sylter lebten hauptsächlich vom Tourismus. »Wir brauchen die Ferien- und Tagesgäste für unsere Wirtschaft, ohne sie kann die Insel nicht überleben.« Die Frage sei aber, »ob sich die Masse an Menschen im Hochsommer noch mit unseren eigenen Vorstellungen von Lebensgefühl, dem Umgang miteinander und dem neuen Freiheits- und Ökologiegedanken verbinden lässt«. Es sei schade, dass inzwischen mehr auf Quantität als auf Qualität gesetzt werde. Gerade im vergangenen Jahr habe sich das extrem bemerkbar gemacht, als jede noch so kleinste Buchungslücke gefüllt worden sei.

BAUBOOM: Die Beliebtheit der Insel bei Touristen hat zu einem Bauboom und einer Explosion der Immobilienpreise geführt. Millionen Euro teure (Reetdach-)Ferienhäuser, exklusive Ferienappartements und riesige Luxushotels entstanden und entstehen noch immer in vielen Inselorten. Was seit Jahrzehnten fehlt, ist bezahlbarer Wohnraum für Einheimische. »Der Bauboom auf Sylt ist ungebrochen, hat aber Wohnungsnotstand zum Ergebnis - das scheint absurd«, sagt Wieda von »Merret reicht's«. »Wir würden heute sagen, dass die uns leitende Ökonomie die Bau- und Investmentbranche ist.« Noch immer werde zu viel Dauerwohnraum in Zweit- und Ferienwohnungen umgewandelt.

Und auch wenn die Anstrengungen für den Bau von kommunalen Wohnungen für Einheimische in der letzten Zeit zugenommen haben, fallen jedes Jahr schätzungsweise 100 Wohnungen durch die Umwandlung in Ferienimmobilien weg. Der Bürgermeister der Gemeinde Sylt, Nikolas Häckel, sagte im Dezember 2020 der »Sylter Rundschau« mit Verweis auf eine Studie, die Fertigstellung kommunaler Dauerwohnungen reiche lediglich aus, um die durch Umwandlung in Ferien- oder Zweitwohnungen verlorene Zahl der Dauerwohnungen annähernd zu kompensieren.

VERKEHR: Gerade an den traditionellen An- und Abreisetagen gehören die Meldungen über stundenlange Wartezeiten an den Autoverladestationen in Niebüll und Westerland zu den Klassikern im Verkehrsfunk. Entzerrte Anreisetage könnten die Situation schon entlasten. Eine echte Lösung bringen nach Meinung vieler auf der Insel vor allem weniger Autos, dafür mehr Angebote im öffentlichen Personennahverkehr und eine verbesserte Fahrradinfrastruktur.

DIE ZUKUNFT: Der Unternehmer Hellner glaubt fest daran, »dass wir das hinbekommen und im Laufe der Zeit wieder besser mit den Ressourcen der Insel und dem Tourismus umgehen werden«. Es werde schwer werden, das Rad umzudrehen oder für Sylt neu zu definieren, aber nicht unmöglich. Nachhaltiger Tourismus, Resonanztourismus, Entschleunigung, Dauerwohnraum, Verkehrskonzepte wie zum Beispiel die Ausweitung des Fahrradwegenetzes und die Bebauung von Grundstücken seien wichtige Themen. Und auch Wieda findet, »Nachhaltigkeit ist für Leben und Tourismus auf der Insel oberstes Gebot«. (dpa)