Schwerwiegende Krisen scheinen in der diesjährigen Nobelpreis-Saison so omnipräsent zu sein wie selten zuvor. Wenn die Bekanntgaben der renommiertesten Auszeichnungen der Erde an diesem Montag mit dem Preis in der Kategorie Medizin eingeläutet werden, dann sucht die Welt parallel nach Halt und Hoffnung.
Ein Medizin-Nobelpreis nach zweieinhalb Jahren Pandemie, weitere wissenschaftliche Nobelpreise in Zeiten der Klimakrise, ein Friedensnobelpreis, während Russland in der Ukraine Krieg führt, und eine wirtschaftswissenschaftliche Auszeichnung, während die Menschen mit Inflation und stark gestiegenen Energiepreisen ringen: Die Nobelpreise finden sich im Jahr 2022 in einer Welt wieder, die sich in einem regelrechten Dauerzustand der Krisen und Konflikte befindet.
Vor diesem Eindruck blicken Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die Literaturwelt, Friedensstifter und die versammelte Weltöffentlichkeit nun eine Woche lang nach Stockholm und Oslo. Von Montag bis Mittwoch werden zunächst die Preisträgerinnen und -träger in den wissenschaftlichen Kategorien Medizin, Physik und Chemie verkündet, dann folgen die Auszeichnungen in Literatur und Frieden. Die Wirtschaftswissenschaften beschließen den diesjährigen Nobelreigen dann am darauffolgenden Montag. Verbunden sind die Ehrungen erneut mit einem Preisgeld in Höhe von zehn Millionen schwedischen Kronen (rund 920 000 Euro) pro Kategorie.
Krisen in der Welt
Was würde Preisstifter und Dynamit-Erfinder Alfred Nobel (1833-1896) von der Situation halten, in der sich die Welt 126 Jahre nach seinem Tod befindet? Der Direktor der Nobelstiftung, Vidar Helgesen, hat eine Vermutung. »Ich denke, er wäre wahrscheinlich umso mehr davon überzeugt, dass die Bedeutung der Wissenschaft, des kritischen wissenschaftlichen Denkens, der Suche nach der Wahrheit, die Bedeutung der internationalen Zusammenarbeit und das Streben nach friedlichen Lösungen von Konflikten wichtiger denn je sind«, sagt er. »Die Werte, die den verschiedenen Nobelpreisen zugrundeliegen, sind in der heutigen Welt wirklich relevanter denn je.«
Gleichzeitig könnte man meinen, dass sich diese Krisen auch auf die Auswahl der Preisträger auswirken werden. Mit Blick auf die Corona-Pandemie hatten bereits im Vorjahr viele gemutmaßt, dass der Medizin-Nobelpreis an die Entwickler der mRNA-Impfstoffe gehen würde - am Ende bekamen ihn stattdessen die Entdecker von Zellrezeptoren, über die Menschen Temperatur und Berührungen wahrnehmen.
»Die Nobelkomitees basieren ihre Überlegungen auf dem Testament von Alfred Nobel und bestimmen, wer im Laufe des letzten Jahres oder der letzten Jahre am meisten zum Nutzen der Menschheit beigetragen hat. Das bleibt trotz aller Krisen die Hauptleitlinie ihres Handelns«, erklärt Helgesen. Doch natürlich spiegelten Forschung, Literatur und nicht zuletzt Friedensbemühungen die Realität der jeweiligen Zeit wider, wie sich etwa am letztjährigen Physik-Nobelpreis für die Klimawissenschaft um den Hamburger Klaus Hasselmann gezeigt habe. »Das war offenkundig ein Zeichen der Zeit«, sagt Helgesen.
Deutsche Preisträger
Vergangenes Jahr waren mit Hasselmann in Physik und mit Benjamin List in Chemie gleich zwei Deutsche unter den Preisträgern gewesen. Bei der Königlich-Schwedischen Akademie der Wissenschaften hatte damals noch Generalsekretär Göran Hansson ihre Namen verkündet. Dessen Nachfolge hat zum Jahreswechsel der Biologe Hans Ellegren angetreten, womit ihm am Dienstag und Mittwoch erstmals die Ehre zufällt, die Preisträger in Physik und Chemie bekanntzugeben. »Ich freue mich so sehr, dazu beizutragen, die Wissenschaft in den Fokus zu rücken«, sagt er über die neue Aufgabe. »Das Scheinwerferlicht ist auf uns gerichtet.«
Mit Blick auf die derzeitigen Probleme der Welt betont Ellegren, dass die wissenschaftlichen Preise an die wichtigsten wissenschaftlichen Errungenschaften der Menschheit gingen - oft unabhängig von derzeitigen Herausforderungen. »Das ist auch wichtig, um die Integrität des Preises zu wahren und sich nicht von Gesprächen über das beeinflussen zu lassen, was derzeit auf der Tagesordnung steht.«
Helgesen hält die Nobelpreise in Zeiten wie diesen auch für eine wichtige Inspirationsquelle für Jüngere. »Wenn du heute ein junger Mensch bist, der nach Hoffnung und Inspiration sucht, dass man die Welt verändern kann, dann sind die Nobelpreise und Nobelpreisträger ein fantastisches Symbol und ein Beispiel aus dem echten Leben dafür, dass Menschen tatsächlich den Lauf der Geschichte verändern können«, sagt er. »Das ist eine Botschaft der Hoffnung und Inspiration, die heute wirklich gebraucht wird.«
© dpa-infocom, dpa:220930-99-951791/2