Die chilenische Polizei rückt mit gepanzerten Fahrzeugen in die Colonia Dignidad ein, Hubschrauber kreisen über dem riesigen Gelände am Fuße der Anden. Die Beamten suchen mal wieder nach Paul Schäfer - doch auch diesmal können sie den so charismatischen wie brutalen Sektenführer aus Deutschland nicht finden.
Stattdessen nehmen die Polizisten sechs Mitglieder der Führungsriege fest. Später werden die Männer gegen Kaution wieder auf freien Fuß gesetzt.
Die Razzia vor 25 Jahren markiert einen Wendepunkt in der Geschichte der »Kolonie der Würde«. Die Colonia Dignidad hatte sich ab 1961 zu einem Ort des Grauens entwickelt. Der Laienprediger Schäfer war damals mit seinen Anhängern von Deutschland nach Chile gezogen und hatte nahe der Stadt Parral eine Siedlung gegründet.
Viel Gewalt
Jahrzehntelang ließ er die Sektenmitglieder dort ohne Lohn bis zur Erschöpfung schuften, riss Familien auseinander und missbrauchte deutsche und chilenische Kinder. Während der Militärdiktatur unter General Augusto Pinochet (1973-1990) wurden auf dem Areal Regimegegner gefoltert und ermordet.
Immer wieder gab es Hinweise auf Gewalt und Missbrauch, allerdings wurden sie von der chilenischen und der deutschen Regierung lange Zeit ignoriert. Mit der Razzia am 17. April 1998 machten die chilenischen Strafverfolgungsbehörden schließlich klar, dass sie dem Treiben in der mittlerweile in Villa Baviera umbenannten Siedlung nicht länger tatenlos zusehen würden.
Fehlende Aufarbeitung
25 Jahre nach dem Paukenschlag in der Colonia Dignidad ist die Bilanz allerdings ernüchternd. »In der Colonia Dignidad wurden wahrscheinlich über 100 Menschen getötet, es gab sexualisierte Gewalt, Misshandlungen, schwere Körperverletzung und Folter«, sagt der Politikwissenschaftler Jan Stehle vom Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL). »Angesichts dieser Verbrechen ist es skandalös, dass bislang nicht engagierter ermittelt wurde.«
Deutsche Behörden wussten bereits seit den 1960er Jahren von den in der Colonia Dignidad verübten Verbrechen. Weil die rechte Militärdiktatur von General Pinochet während des Kalten Krieges eher zu den Verbündeten der Bonner Regierung gehörte und es auch persönliche Kontakte zwischen deutschen Diplomaten und der Führungsriege der Colonia Dignidad gab, wurde den Hinweisen allerdings nicht nachgegangen.
»Der Umgang mit der Colonia Dignidad ist kein Ruhmesblatt, auch nicht in der Geschichte des Auswärtigen Amtes«, räumte der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier 2016 erstmals ein. »Über viele Jahre hinweg haben deutsche Diplomaten bestenfalls weggeschaut, jedenfalls zu wenig für den Schutz ihrer Landsleute in dieser Kolonie getan.«
Kaum Ermittlungen gegen Täter
Mittlerweile leben zahlreiche mutmaßliche Täter aus der Colonia Dignidad in Deutschland. »Die strafrechtliche Aufarbeitung der Verbrechen in der Colonia Dignidad ist höchst ernüchternd. Es gab in Deutschland eine Reihe von Ermittlungsverfahren gegen die Führungsriege, aber alle wurden eingestellt, weil es vermeintlich keinen hinreichenden Tatverdacht gab«, sagt Stehle. Da alle Verbrechen außer Mord mittlerweile verjährt sind, haben die Verdächtigen dort keine strafrechtliche Verfolgung mehr zu befürchten.
»Es gibt heute mehr Täterwissen in Deutschland als in Chile«, sagt Stehle. »Das ist ein Problem, weil in Deutschland nicht ermittelt wird und die chilenischen Strafverfolgungsbehörden keinen Zugang zu den Verdächtigen haben. Es droht eine biologische Straflosigkeit, da Täter und Opfer sterben, ohne dass die Verbrechen aufgeklärt wurden.«
Horror-Geschichte bleibt erhalten
Künftig soll eine Gedenkstätte in der Villa Baviera an die dort verübten Verbrechen erinnern. Die Idee »hat die Unterstützung unserer Regierung, und wir werden uns entsprechend beteiligen«, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) Ende Januar bei einem Besuch in Chile.
Chiles Präsident Gabriel Boric bedankte sich für die »Bereitschaft der deutschen Regierung, zur Suche nach der Wahrheit« beizutragen. »Wir unterstützen das komplett. Der chilenische Staat kämpft unermüdlich für die ganze Wahrheit und Gerechtigkeit«.
Die Umsetzung zieht sich allerdings in die Länge. Das Konzept für die Gedenkstätte liegt bereits seit zwei Jahren vor, die verschiedenen Opfergruppen sind sich weitgehend einig, aber noch immer gibt es keine Rechtsform, keine Geschäftsstelle. »Den Moment muss man nutzen. Chile und Deutschland müssen hier engagierter zusammenarbeiten und konkret werden anstatt weiter zu verzögern«, sagt Politikwissenschaftler Stehle.
Am 11. September jährt sich der Militärputsch in Chile zum 50. Mal. Opfergruppen und Menschrechtsaktivisten hoffen, dass bis dahin zumindest der Grundstein für das Dokumentationszentrum in der Colonia Dignidad gelegt wird. »Die Gedenkstätte würde diese Siedlung endlich verändern und den Opfern einen Ort der Trauer geben«, sagt Stehle.
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