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Lesen als »Tor zur Welt«: Tausende Lernhelfer

Jedes vierte Kind kann nicht richtig lesen, wenn es auf die weiterführende Schule kommt. Das Engagement tausender ehrenamtlicher Leselernhelfer rückt in den Blick.

Tausende Lernhelfer
Lernhelferin Sabine Güllich unterstützt Schüler Hassan in einem Leseraum einer Grundschule in Hürth. Foto: Henning Kaiser/DPA
Lernhelferin Sabine Güllich unterstützt Schüler Hassan in einem Leseraum einer Grundschule in Hürth.
Foto: Henning Kaiser/DPA

Sabine Güllich und Hassan sind ein gutes Team: ein Lesetandem in Hürth bei Köln. Der Junge hat Probleme beim Lesen - wie dramatisch viele Grundschüler der vierten Klasse deutschlandweit, so legte es jüngst die internationale Iglu-Studie offen.

Inzwischen hat Hassan enorm aufgeholt. An diesem Morgen geht es in einem Leseraum seiner Grundschule um eine Abenteuermaus, die Ostseeinsel Rügen und Giraffen in der »Safahne«, nein, Savanne. Ein schwieriges Wort, Hassan stockt, wiederholt. Fehler bemerkt er selbst schnell, korrigiert sich. Seine Leselernhelferin zeigt ihm mit einem Lesezeichen die Zeile an. Der Junge wirkt konzentriert, aufgeweckt, er will alles richtig machen.

»Das macht Spaß, ist gar nicht schwer«, erzählt Hassan stolz. Er steht kurz vor seinem 9. Geburtstag, seit fast anderthalb Jahren übt er jede Woche eine Stunde mit Sabine Güllich. Sie ist eine von 13.000 Ehrenamtlern, die im Verband »Mentor - Die Leselernhelfer« rund 16.600 leseschwache Kinder unterstützen, wie Bundesverbandssprecherin Agnes Gorny schildert. Das bewährte Konzept laute seit nun schon 20 Jahren: Mindestens eine Stunde pro Woche betreut ein Erwachsener durchgängig ein Kind, wenigstens ein Jahr lang.

Schock nach Iglu-Studie

Die Iglu-Grundschul-Lese-Untersuchung des Instituts für Schulentwicklungsforschung an der Uni Dortmund hat eklatante Schwächen bei der Lesekompetenz zutage gefördert: Inzwischen schaffen bundesweit 25 Prozent der Viertklässler nicht das Mindestniveau, ein starker Anstieg binnen fünf Jahren. Ihnen drohen auf ihrem Bildungsweg »erhebliche Schwierigkeiten in fast allen Schulfächern«. Auch Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) hatte sich alarmiert gezeigt.

In der Schule richtig lesen zu lernen, ist also längst nicht mehr selbstverständlich - und diese Tatsache rückt die ehrenamtliche Förderung mithilfe vieler Tausend engagierter Unterstützer umso mehr in den Blick. Mehrere Initiativen vermitteln lesefreudige Ehrenamtler: Allein in Berlin gehen etwa 2000 Lesepatinnen und Lesepaten der Vereins VBKI jede Woche in Kitas und Schulen. Mancherorts sind Leseomas und Leseopas im Einsatz. Viele Grundschulen suchen Freiwillige.

Lesen in Tandems

»Das wöchentliche gemeinsame Lesen mit einem Erwachsenen kann ein sinnvolles Element sein, auch wenn dieser kein ausgebildeter Pädagoge oder keine ausgebildete Pädagogin ist«, sagt Iglu-Studienleiterin Nele McElvany der Deutschen Presse-Agentur.

Vor allem die Lesemotivation könnte gefördert, ein positiver Zugang zum Bücherlesen eröffnet werden. »Das ersetzt natürlich nicht die fachdidaktische Vermittlung des Lesenlernens und von Lesestrategien im Unterricht durch Lehrkräfte.« Wichtig: Die Auswahl passender Texte je nach Kompetenzstufe. »Die Kinder sollen ja weder über- noch unterfordert werden.« Feste Tandems seien gut.

»Das regelmäßige Üben von Lesen ist insbesondere in der Grundschule sehr wichtig, da es die Voraussetzung für die Automatisierung von Leseprozessen und das sichere Anwenden von Lesestrategien ist«, erläutert die Forscherin. Und zentral für die Wortschatzbildung.

Dass nun einige Länder oder Schulen Konzepte entwickeln, um regelmäßiges Lesen systematisch in den Schulalltag einzubauen, sei positiv - es komme aber auf die Umsetzung an. Lesen in festen Kleingruppen oder Tandem-Lesen hält sie für aussichtsreich.

NRW reagiert nach Iglu-Schock

Nordrhein-Westfalen (NRW) erhöht nach dem Iglu-Schock die Lesezeiten. »Lesen ist das Fundament, auf dem die gesamte Bildung unserer Kinder aufbaut. Nur wer lesen kann, versteht auch Tafelbilder, Aufgabentexte oder mathematische Formeln«, betont NRW-Schulministerin Dorothee Feller (CDU).

Man habe seit diesem Schuljahr an Grund- und Förderschulen eine verbindliche Lesezeit von wöchentlich mindestens drei mal 20 Minuten vorgeschrieben. »Hinter dieser Formel steckt ein Konzept, das sowohl wissenschaftlich fundiert als auch praxistauglich ist.« Die Unterstützung von außerschulischen Partnern wie den Leselernhelfern sei »sehr willkommen«.

Bessere Noten als Folge

Lesementorin Güllich ist überzeugt: »Lesen ist das Tor zur Welt, und jeder kleine Schritt ist wichtig als Baustein für mehr Lesefähigkeit und Textverständnis«. Die Leseunterstützung läuft in enger Absprache mit der Schule, die auch die Kinder mit Förderbedarf auswählt. »Auch die Rückmeldung der Eltern ist positiv«, berichtet Güllich.

Mit Hassan hat sie soeben einige Seiten aus einer Kinderzeitung gelesen. Fragen zum Text schafft der Junge danach ziemlich fix. »Früher habe ich die Aufgabenstellungen fast nie gut verstanden«, erzählt Hassan. Jetzt habe er sogar bessere Noten. Sabine Güllich setzt auf einen Mix aus Papier und Tablet.

Neurowissenschaftler Manfred Spitzer wirbt vehement für gedruckte Bücher. Es liege auf der Hand, dass Kinder Texte auf Tablets abgelenkter und flacher lesen als auf Papier, sagt er der dpa. Hassan freut sich, wenn das Tablet im Spiel ist, greift aber gerne auch schon zu ziemlich dicken Büchern, gerade ist es »Harry Potter«. Und: »Meiner kleinen Schwester lese ich Gute-Nacht-Geschichten vor.«

© dpa-infocom, dpa:230913-99-176002/2