Nie mit einem anderen Kind gespielt, nie eine Wiese gespürt, nie eine Kita betreten oder einen Klassenraum gesehen. Kaum vorstellbar bei einem achtjährigen Mädchen. Der drastische Fall im ländlichen Attendorn erschreckt und wirft viele Fragen auf.
Fast sein gesamtes Leben lang, beinahe sieben Jahre, ist das Kind mutmaßlich von seiner Mutter und seinen Großeltern in deren Haus festgehalten worden. Unfassbar lange hat niemand etwas bemerkt oder gemeldet. Vor zwei Jahren und vor einem Jahr gingen dann beim Jugendamt im Kreis Olpe zwei anonyme Hinweise ein. Trotzdem: Erst am 23. September 2022 wurde die Achtjährige befreit. Über den Aufsehen erregenden Fall hatte am Wochenende zuerst der »Sauerlandkurier« berichtet.
Die Ermittlungen gehen auch in Richtung Jugendamt
Seitdem ist das Entsetzen groß. Der Fachbereichsleiter des Jugendamts, Michael Färber, sagte am Montag auf dpa-Anfrage, man sei den beiden anonymen Hinweisen sofort nachgegangen. »Aber es gab keine stichhaltigen Hinweise oder konkreten Anhaltspunkte, dass sich das Mädchen dort aufhielt.« Man habe daher keine rechtliche Möglichkeit gehabt, das Haus zu betreten - das sei auch die damalige Einschätzung der Polizei gewesen. »Wir haben keine Anzeichen gefunden, die bestätigt hätten, dass das Kind und seine Mutter bei den Großeltern in Attendorn leben.«
Gegen die Mutter des Kindes und die Großeltern ermittelt die Staatsanwaltschaft in Siegen wegen Freiheitsberaubung und Misshandlung von Schutzbefohlenen. Sie geht davon aus, dass sie dem Mädchen fast sieben Jahre lang nicht ermöglicht hatten, »am Leben teilzunehmen« - nicht an Kita, Schule oder am Spiel mit anderen Kindern. Die Ermittlungen laufen, sagte Oberstaatsanwalt Patrick Baron von Grotthuss. Die Hintergründe seien noch unklar. Mutter und Großeltern schweigen bisher, Zeugen wurden weiter befragt.
Die Ermittlungen erstrecken sich laut Staatsanwaltschaft aber auch auf das Jugendamt. »Wir müssen auch beleuchten, ob das Jugendamt alles Notwendige getan hat, um den Fall aufzudecken«, erläuterte der Oberstaatsanwalt. Es stelle sich »zwangsläufig die Frage, ob das Kind nicht früher hätte gefunden werden können«. Normalerweise wisse man auf dem Dorf schnell, wer bei den Nachbarn ein und aus gehe. Es sei erstaunlich, dass das Kind so viele Jahre nicht gesehen worden sei - und zugleich ein Hinweis darauf, dass die Beschuldigten »sehr geheim und sehr sorgfältig« vorgegangen seien. Die Motivlage sei offen.
Angeblich lebten Mutter und Kind in Italien
Das Einfamilienhaus in dem beschaulichen Ort wirkt jedenfalls unauffällig. Geranien vor den Fenstern. Kein nennenswertes Grün. Der hintere Teil kaum einsehbar. Definitiv kein Hinweis auf ein Kind, kein Spielzeug, keine bunten Fensterbildchen.
Nach Darstellung des Kreises Olpe konnten nach den anonymen Hinweisen »Vorwürfe einer möglichen Kindeswohlgefährdung nicht konkretisiert werden«. Es habe keine Beweise dafür gegeben, dass das Kind nicht in Italien lebe. Die Mutter hatte sich im Sommer 2015 aus Attendorn abgemeldet und als neuen Wohnort für sie und ihre Tochter eine Adresse in Italien angegeben.
Offenbar habe die Mutter vermeiden wollen, dass ihre Tochter Umgang mit ihrem - getrennt von den beiden lebenden - Vater hat, schilderte Färber vom Jugendamt. Der habe sich ans Familiengericht gewandt, das dann 2016 das Sorgerecht für beide Elternteile bekräftigte. Beim Gerichtsentscheid sei als Wohnort von Mutter und Tochter eine italienische Adresse angegeben gewesen, unterstrich Färber.
Erst in diesem Sommer gab es eine Bewegung, die im September zur Befreiung des Kindes führte. Nach Darstellung des Kreises Olpe hatte im Juli ein Ehepaar, das keine direkte Verbindung zur Familie hatte, Hinweise von Freunden weitergegeben, die sicher seien, das Kind werde im Haus der Großeltern gefangen gehalten. Dann sei es zügig gegangen: Man habe am 14. Juli das Bundesamt für Justiz eingeschaltet, dieses wiederum die Behörden in Italien. Am 12. September kam dann die verblüffende Mail ans Jugendamt: Die Mutter wohnte nie in Italien. Man habe am nächsten Tag die Polizei alarmiert. Am 23. September kam das Kind nach einer Hausdurchsuchung frei. Landrat Theo Melcher kündigte an, »verfahrensbezogene Vorgänge im eigenen Haus« würden geprüft.
Jetzt muss das Kind seelisch stabilisiert werden
Wie kann es einem Kind gehen, dass in den ersten, prägenden Lebensjahren eingesperrt in vier Wänden lebte, nur Umgang mit drei Erwachsenen hatte? Hinweise auf eine körperliche Misshandlung oder Unterernährung gab es bei seiner Befreiung nicht. »Für das Kind steht jetzt die Welt kopf. Es wird sich fühlen wie auf einem anderen Planeten«, meint Nicole Vergin vom Kinderschutzbund NRW. Grundbedürfnisse des Mädchens und grundlegende Kinderrechte auf Bildung, Spielen oder soziale Kontakte seien missachtet worden. Das werde Auswirkungen auf die mentale, psychische und motorische Entwicklung haben. Das Kind ist in einer Pflegefamilie untergebracht.
Das Kind müsse zu allererst seelisch stabilisiert werden, mahnte Sozialpädagogin Sabine Müller-Kolodziej. Auch wenn die Beschuldigten zur Verantwortung gezogen werden müssten, solle dem Mädchen ein begleiteter Umgang mit ihnen weiter ermöglicht werden, um es nicht zu entwurzeln. Laut WDR kann die Achtjährige Lesen und Rechnen, hat aber Probleme bei Alltäglichem wie Treppensteigen. Der »Sauerlandkurier« schrieb, sie habe nie eine Wiese betreten oder einen Wald gesehen.
Auch der NRW-Landtag wird sich bald mit den Vorgängen befassen: Die SPD-Opposition will das Agieren der Behörden durchleuchten. Die Frage nach dem Vater des Mädchens wird gestellt: Eine Beziehung bestand laut Kreis Olpe wohl schon vor der Geburt des Kindes nicht. Der Kinderschutzbundes mahnt: Zentral sei nun vor allem die behutsame Begleitung des Mädchen auf dem Weg in ein normales Leben.
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