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Journaling: Wie Tagebuchschreiben die Persönlichkeit entwickeln soll

Journaling heißt eine Form des Tagebuchschreibens. Die ist irrsinnig angesagt. Woran liegt das?

Schwört auf die therapeutische Wirkung eines regelmäßigen Tagebucheintrags: Autorin Johann Kramer
Schwört auf die therapeutische Wirkung eines regelmäßigen Tagebucheintrags: Autorin Johann Kramer Foto: Sabine Fischer
Schwört auf die therapeutische Wirkung eines regelmäßigen Tagebucheintrags: Autorin Johann Kramer
Foto: Sabine Fischer

EHINGEN. In aller Herrgottsfrühe hat Johanna Kramer erst einmal ihr Gehirn entleert. Täglich hat sie sich nach dem ersten Espresso im Bett aufgesetzt und seitenweise Notizbücher vollgeschrieben. Sie hielt alles fest, was sie direkt nach dem Aufwachen schon umtrieb. Sätze wie: »Ich habe Nackenschmerzen«, »Wäsche, einkaufen, endlich die Versicherung anrufen, womit fange ich heute an?«, »Die Vögel zwitschern laut und mein Kopf ist so früh am Morgen unglaublich voll«. Bis zu 20 Minuten dauerte so eine morgendliche Schreibeinheit. Kramer schwört auf den therapeutischen Effekt: »Es ist total befreiend, morgens einmal alles rauszulassen, was man sonst den ganzen Tag mit sich herumträgt.«

Kramer ist nicht der einzige Fan. Sogenanntes Journaling ist irrsinnig angesagt. Dabei handelt es sich um eine Form des Tagebuchschreibens. Doch während im klassischen Tagebuch meist Erlebtes in chronologischer Form aufgeschrieben wird, geht es beim Journaling um Persönlichkeitsentwicklung. Die Heilsversprechen sind zahlreich: Schreibend soll eine Verbindung zum Unterbewusstsein geschaffen, sollen Gefühle verarbeitet werden. Journaling soll helfen, Gedanken zu sortieren, Sorgen zu verscheuchen, Ziele zu fokussieren, Klarheit schaffen, Stress reduzieren. Experten zufolge macht regelmäßiges Niederschreiben der eigenen Gedanken nicht nur seelisch, sondern sogar körperlich gesünder, stärkt das Immunsystem und senkt den Blutdruck. Mitunter berichten Anhänger, dass sie mit Journaling ihre Magenbeschwerden kuriert hätten.

Soll Ziele sichtbar und den Kopf frei machen: Journaling
Soll Ziele sichtbar und den Kopf frei machen: Journaling Foto: Sabine Fischer
Soll Ziele sichtbar und den Kopf frei machen: Journaling
Foto: Sabine Fischer

Johanna Kramer ist durch eine Lebenskrise zum Journaling gekommen. Bis vor rund zehn Jahren arbeitete die heute 39-Jährige aus Ehingen (Alb-Donau-Kreis) im internationalen Vertrieb eines Großkonzerns – und war mit ihrem Nine-to-five-Job nicht glücklich. Dann starb ihre Mutter an Krebs. Kramer kündigte und begann, ein Tagebuch vollzuschreiben, das ihr eine Freundin geschenkt hatte. Nach eigenen Angaben half ihr das sowohl bei der Trauerbewältigung als auch dabei herauszufinden, was sie mit ihrem Leben machen wolle. In der Folge ließ sie sich am US-amerikanischen Center for Journal Therapy zur Kursleiterin für Journaling-Workshops sowie zur Schreibtherapeutin ausbilden.

Persönlichkeitsentwicklung und die Beschäftigung mit sich selbst haben Konjunktur. Zahlreiche oft gestresste Mitteleuropäer haben die indische Yoga-Lehre und Meditation für sich entdeckt, um geistige Klarheit und Ruhe zu finden. Die Renaissance des Tagebuchschreibens ergänzt als weitere Spielart den Achtsamkeitsmarkt. Sogenannte Coaches bieten wie Johanna Kramer Journaling-Kurse an, um ihren Kunden beizubringen, wie sie sich zu innerem Wachstum und Selbstreflexion schreiben, Buchtitel wie »Heilung durch Schreiben« oder »Ich schreibe mich gesund« versprechen Ähnliches. Dazu gibt es inzwischen unzählige Tagebücher mit hübschen Leineneinbänden und Goldverzierungen zu kaufen, in denen Schreibaufgaben wie »Was habe ich heute gelernt?« bereits vorgedruckt sind und die von den Nutzern bloß noch ausgefüllt werden müssen. Und Journaling ist auch Lifestyle. Auf der Plattform Instagram hat der gleichnamige Hashtag mehr als acht Millionen Beiträge. Das Internet ist voll von Fotos von Frauen in cremefarbenen Strickpullis, die im Kerzenschein Gefühle in Schreibschrift formulieren.

Schreibend aus der Lebenskrise

 

Johanna Kramer erzählt in ihrem Ratgeber-Buch, wie sie mit Tagebuch Schreiben den Tod ihrer Mutter und berufliche Unzufriedenheit bewältigte. »Glaube, liebe, schreibe - Erschaffe ein Leben, das du liebst« erscheint am 12. März (Kampenwand Verlag, 288 Seiten, 16,90 Euro)

Beim Journaling gibt es unterschiedliche Methoden. Im Gegensatz zu den sogenannten Morgenseiten, bei denen man sich zu Tagesbeginn den Kopf freischreibt, hält man in einem »Dankbarkeitstagesbuch« meist am Abend fest, was einen tagsüber erfüllt hat. Kramer favorisiert zurzeit die »Fünf-Minuten-Sprints«: Dabei beantwortet sie sich eben so lange eine Frage, ohne den Stift abzusetzen.

»Beim Journaling geht es nicht um krankhafte Selbstoptimierung«, sagt sie. Kramer zufolge ist das Schreiben eher Hilfe zur Selbsthilfe: Journaling biete eine Art Werkzeugkoffer mit verschiedenen Übungen, die zu je verschiedenen Lebenssituationen passten. Viele Menschen litten in der gegenwärtigen Zeit und nicht zuletzt durch die Corona-Pandemie unter Ängsten und Unsicherheiten, aber es gebe zu wenige Möglichkeiten, wo sie Hilfe bekämen. »Also suchen die Leute nach etwas, mit dem sie sich selbst helfen können.«

»Schreiben ist Energiearbeit und kann anstrengend sein. - Johanna Kramer«

Kramers Publikum nach ist Journaling noch ein Frauending. In ihren Kursen fließen häufig Tränen. »Schreiben ist Energiearbeit und kann anstrengend sein. Da kommen Emotionen hoch«, sagt sie. Aber warum überhaupt einen Kurs belegen? »Man kann auch einfach für sich selbst drauflosschreiben.« Manche schrieben immer wieder um den gleichen Brei herum und kämen nicht weiter. Menschen mit diagnostizierter schwerer Depression rät sie vom freien Schreiben ab. »Es kann passieren, dass man sich noch tiefer in eine Misere hineinschreibt.«

Aber ist es tatsächlich für Gesunde und Normal-Gestresste entspannungsfördernd, wenn sie allmorgendlich vor der Vesperdosen-Zubereitung für den Nachwuchs oder abends nach zwei Überstunden und Küchenputz auch noch ausführlich ihre Verfassung zu Papier bringen sollen? Laut Kramer kann man sich da durchaus zusätzlichen Druck schaffen. »Man sollte Tagebuchschreiben so in seinen Alltag integrieren, wie man sich wohlfühlt und es für einen passt.« Wer ein Ziel erreichen wolle, solle es aber schon mit gewisser Regelmäßigkeit tun, sagt Kramer. Allerdings: Yoga, Meditation, Journaling, kann man es auch übertreiben mit dem Kreisen um sich selbst? Zumindest, wenn es dazu führt, dass man sich nur noch in die eigene Blase zurückzieht, findet Kramer: »Die Gefahr besteht definitiv.« (GEA)