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Gibt es Frühlingsgefühle wirklich?

Die Tage werden länger, die Sonne scheint öfter, die Temperatur steigt. Die Leute kommen aus den Wohnungen, spazieren durch Parks, sitzen in Cafés. Viele lächeln, plaudern, flirten. Im Frühjahr bricht eine neue Zeit an. Gibt es Frühlingsgefühle wirklich?

FOTO: VOLODYMYR – STOCK.ADOBE.COM
Wie verhält sich das mit den menschlichen Gefühlen, wenn alles blüht, wächst und die Temperaturen steigen? Wissenschaftler haben es herazusgefunden.
Wie verhält sich das mit den menschlichen Gefühlen, wenn alles blüht, wächst und die Temperaturen steigen? Wissenschaftler haben es herazusgefunden.

REUTLINGEN. Die Tage werden länger, die Sonne scheint öfter, die Temperatur steigt. Draußen sprießen Narzissen, Vögel zwitschern, Gras duftet. Die Leute kommen aus den Wohnungen, spazieren durch Parks, sitzen in Cafés. Viele lächeln, plaudern, flirten. Im Frühjahr bricht eine neue Zeit an, die Natur blüht auf, die Menschen auch. Jahr für Jahr ist das Phänomen zu beobachten, im Volksmund wird es »Frühlingsgefühl« genannt. Doch was ist dran an der Euphorie im ersten Quartal? Gibt es Frühlingsgefühle wirklich? Was passiert im Körper? Und verlieben wir uns leichter?

- Gibt es Frühlingsgefühle wirklich?

Das Frühlingsgefühl existiert, da sind die Wissenschaftler sich einig. Matthias Weber von der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE) etwa beschreibt ein »Gefühl der Aufbruchstimmung«: »Man wirft Ballast ab, hat mehr Tatendrang.« Die Endokrinologie befasst sich mit den Drüsen und Hormonen im menschlichen Körper – und kommt zu dem Schluss: Wenn die Natur aus der Winterstarre erwacht, dann wird auch der Mensch wieder lebendiger. Viele fühlen sich wacher, motivierter, fröhlicher – und flirtbereiter.

- Warum macht Frühling glücklich?

Frühling macht glücklich. Das liegt aber nicht an der Wärme. Sondern am Licht: Die Sonne scheint länger und heller. Das zeigt der Vergleich für Reutlingen: Am kürzesten Tag des Jahres, dem 21. Dezember, dauert der Tag 8 Stunden und 30 Minuten. Am kalendarischen Frühlingsanfang, dem 20. März, ist der Tag mit 12 Stunden und 21 Minuten schon länger als die Nacht. Zur Sommersonnenwende am 21. Juni, dem längsten Tag im Jahr, wird es fast gar nicht dunkel: Von Sonnenaufgang bis -untergang dauert es 16 Stunden und 12 Minuten.

Und was hat es jetzt mit dem Glück auf sich? »Alle Gefühle entstehen im Gehirn – auch die Frühlingsgefühle«, erklärt Gustav Jirikowski, emeritierter Professor für Anatomie, zuletzt tätig am Universitätsklinikum Jena. »Gefühle sind Wirkungen von Hormonen, die im Körper entstehen und im Gehirn Schaltkreise aktivieren.«

Die Hormone richten sich nach Tag und Nacht. Für den Wach-Schlaf-Rhythmus sind vor allem zwei Hormone verantwortlich: Serotonin und Melatonin. Beide werden produziert in der Zirbeldrüse: einem kleinen, zapfenförmigen Teil des Gehirns. Dennoch haben sie gegensätzliche Wirkungen. Serotonin wird tags ausgeschüttet. Die Herstellung wird angeregt vom Licht, das durch die Augen einfällt und von den Nerven ans Gehirn gemeldet wird. Je mehr Helligkeit, desto mehr Serotonin. Serotonin macht wach. Melatonin dagegen wird nachts ausgeschüttet. Je mehr Dunkelheit, desto mehr Melatonin. Melatonin macht müde.

Serotonin macht also munter – aber nicht nur. Zusätzlich gibt es Ausgeglichenheit, Gelassenheit und Zufriedenheit. Dämpft Angst, Trauer und Aggression. Hemmt Schmerz. Und – kleiner Bonus – bremst Appetit.

Es geht aber nicht bloß um Serotonin. Stattdessen provozieren Sonnenstrahlen die Ausschüttung eines ganzen Cocktails von Glückshormonen. »Serotonin steigt, aber auch Dopamin und Noradrenalin. Man fühlt sich aktiver und wacher«, erklärt Weber. Dopamin löst Vorfreude aus, motiviert und drängt zur Tat. In der Folge ist der Mensch konzentrierter, entschlossener und aktiver.

Noradrenalin ist eine Reaktion auf psychischen und physischen Stress: Der Blutdruck steigt, die Atmung beschleunigt sich, der Stoffwechsel rast. Der Körper wird in den Modus »Kampf oder Flucht« versetzt. Der Botenstoff Noradrenalin hat allerdings auch positive Effekte: Wachheit, Aufmerksamkeit und Konzentration steigen. Die körperliche Leistungsfähigkeit nimmt zu.

Auch wichtig für Frühlingsgefühle ist Vitamin D. Den Stoff bildet die Haut bei Sonnenlicht. Genug davon gibt es in Deutschland nur von März bis Oktober. Zwar speichern Muskeln und Fett einen Vorrat. Trotzdem leiden viele Menschen im Winter unter Mangel. Das bringen viele Studien mit Müdigkeit und Depression in Verbindung. Helfen können hier Nahrungsergänzungsmittel.

Psychologin Christine Blume kommt zu dem Schluss: »Forschende sind sich einig, dass helles, intensives Licht gut für die Stimmung ist.« Blume forscht am Zentrum für Chronobiologie der Universität Basel und meint: »Das gilt für Sonnenlicht genauso wie für Lichttherapien. Letztere können depressiven Patientinnen und Patienten zusätzlich zu Medikamenten helfen.«

Im Frühling wird es aber nicht bloß heller und wärmer, sondern die ganze Welt erwacht gleichsam zu neuem Leben. Grüne Blätter wachsen, farbige Blumen blühen, Menschen tragen helle, kräftige Farben. Es duftet nach Gräsern, Blüten und Parfüms. Vögel zwitschern, Straßenmusiker spielen. Diese vielfältigen Sinnesreize rütteln – zusätzlich zum Hormon-Cocktail – wach und machen gute Laune.

- Verlieben wir uns im Frühling leichter?

Bei Verliebten zündet im Körper ein biochemisches Feuerwerk. Dabei spielen viele Glückshormone eine Rolle, die auch durch Licht hervorgerufen werden: Auslöser ist Dopamin, der in Rausch versetzt. Hinzu kommen Adrenalin und Noradrenalin, die Herzklopfen und Bauchkribbeln verursachen. Überraschenderweise sinkt der Serotonin-Spiegel und bewirkt die obsessive Fixierung auf den Partner. Zu guter Letzt stärkt Oxytocin Vertrauen und Bindung zum anderen.

Auch interessant: Die Spiegel der Sexualhormone Testosteron und Östrogen liegen Studien zufolge sowohl bei Männern als auch bei Frauen in den ersten Monaten höher als im restlichen Jahr. Ein Übriges tut knappe, enge Kleidung: Da sieht man gleich, was man bekommt. »Ohne Sinnesorgane ist Liebe nicht möglich«, schlussfolgert Jirikowski. »Natürlich kann man so etwas Komplexes wie eine lebenslange Partnerschaft nicht auf ein paar Hormone reduzieren. Aber sie sind das, was unser System zum Laufen bringt und am Laufen hält.« Trotzdem kommen die meisten Babys im September zur Welt. Rechnet man neun Monate zurück, landet man nicht im Frühling, sondern bei Weihnachten und Neujahr. Da ist es warm, dunkel und heimelig in der guten Stube: also beste Voraussetzungen zum Kuscheln.

- Bremst die Zivilisation die Natur?

Früher waren die Menschen der Natur mit ihren Jahreszeiten voll ausgeliefert. Das ist in der Zivilisation anders. Menschen halten sich oft in geschlossenen Räumen mit weniger natürlichem Licht auf. Umgekehrt machen viele Leute die Nacht zum Tag oder sind im Schlafzimmer Licht ausgesetzt. Andere reisen im Winter in den Süden. Frauen nehmen die Anti-Baby-Pille, Ältere Anti-Aging-Präparate. Das bringt den Hormon-Haushalt durcheinander. »Künstliche Bedingungen können die natürlichen Reize abschwächen«, erklärt Weber. »Aber sicherlich sind sie immer noch vorhanden.«

- Gibt’s Frühlingsgefühle auch anderswo?

»Frühlingsgefühle gibt es auch in Nordamerika. Dort sind als ›Spring Fever‹ bekannt«, erklärt Weber. »Aber je näher am Äquator, desto geringer sind die Unterschiede zwischen Tag und Nacht, zwischen Sommer und Winter. Umso weniger sind dort also Frühlingsgefühle feststellbar.« (GEA)

SO GEHT’S WEITER

Die GEA-Serie zu Frühlingsgefühlen geht nächste Woche weiter. Dann dreht sich alles um die Partnerwahl. Und Sie erhalten Antwort auf die Frage: Warum verliebe ich mich gerade in diese Person, aber nicht in jene? (GEA)