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Aktuell Katastrophen

Früherer GEA-Redakteur: Sorge um Freunde in Myanmar

Der frühere GEA-Sportredakteur Michael Grimm hofft auf ein Lebenszeichen des Fremdenführers Tun Tun.

Das Erdbeben in Myanmar hat viele Häuser zerstört.  FOTO: DPA
Das Erdbeben in Myanmar hat viele Häuser zerstört. FOTO: DPA
Das Erdbeben in Myanmar hat viele Häuser zerstört. FOTO: DPA

REUTLINGEN. Wir schreiben uns seit vielen Jahren regelmäßig, aber jetzt warte ich seit Tagen auf eine Reaktion von Tun Tun. Auf seine Antwort zu meiner Frage, wie es ihm geht nach dem verheerenden Erdbeben, das in Myanmar, vor allem im Epizentrum Mandalay, der zweitgrößten Stadt im Bürgerkriegsland, so heftig gewütet und so viele Todesopfer gefordert hat. Leichengeruch wabert durch die Straßen der einstigen Königsstadt und diese Ungewissheit, ob Tun Tun noch lebt, sie zermürbt. Dieses bange Warten erinnert an den 25. April 2015, als in Nepal die Erde massiv bebte und ich um meinen jungen Trekkingführer Dawa fürchtete. Bis er, nachdem das Internet wieder voll funktionierte, sich nach einer Woche bei mir meldete. Unversehrt. Und nun Tun Tun. Leben er, seine Frau und die beiden Töchter noch?

Ich wünsche es mir so sehr. Dieser freundliche Birmane hatte mich fasziniert, als wir an einem lauen Abend im November 2012 stundenlang an einem Kneipentisch saßen und er mir seine Lebensgeschichte erzählte, zu einer Zeit, als die Republik der Union Myanmar gerade seine Grenzen geöffnet hatte. Als die jahrelang eingesperrte Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi öffentlich reden durfte und weitgehend Pressefreiheit herrschte – bis das Militär am 1. Februar 2021 putschte und die Staatsgewalt wieder an sich riss. Was die Menschenrechtsverletzungen angeht, liegt Myanmar noch hinter Nordkorea und lediglich vor Afghanistan.

Zufällige Bekanntschaft

Tun Tun lernte ich während einer zweieinhalbwöchigen Tour durch das bezaubernde Goldene Land mit seinen abertausenden Pagoden und einer halben Million Mönchen, die den Lehren des Theravada, des frühen Buddhismus folgen, per Zufall kennen. Seine Geschichte, wie er sie mir geschildert hat:

Die Rezeptionistin in meiner Herberge empfiehlt das Lokal an der 81. Straße, Ecke 31., unweit des riesigen, von acht Meter hohen und bis zu drei Meter dicken Mauern umgebenen Königspalastes von Mandalay, dem einst die Rolle als geistiges Zentrum des Universums zufiel, nun aber profane irdische Aufgaben erfüllt und dem Militär zur Beherbergung Tausender Soldaten dient. Die Stadt, von der Frank Sinatra, Elton John, Robbie Williams oder die Eagles singen, die großartige Literaten wie Rudyard Kipling oder Berthold Brecht würdigen, wirkt wie ein Magnet.

Prophezeiung Buddhas

Mandalay – allein der Name entfacht Magie. Der zarte Sound der Silben entführt ins Reich der Mystik, befeuert alte Geschichten neu. Der Ursprung Mandalays beruht auf einer Prophezeiung Buddhas. König Mindon wählt ein Gelände am Ufer des Ayeyarwady mit Bedacht aus, weil er den Worten des Erleuchteten folgt, der bei einem Besuch ankündigt, dass an dieser Stelle zweitausendvierhundert Jahre später eine Stadt entstehen werde. Deshalb befiehlt Mindon nach westlichem Kalender am 13. Februar 1857 die Umsiedelung aus Amarupa ins neugeschaffene Mandalay.

Der Kellner bringt gefrorenes Flaschenbier, das sich bei den auch am Abend noch tropischen Außentemperaturen bald in einen trinkbaren Zustand verflüssigt. Am angrenzenden Tisch diskutiert ein Männersextett. Auffallend dabei, dass es einen Wortführer gibt, dem alle wie gebannt lauschen. Auch äußerlich unterscheidet sich die Runde. Er ist einen Kopf größer als seine Landsleute, trägt eine feine, dunkelblaue Hose, ein kurzärmliges, weißes Hemd und schwarze Slipper; sein Sakko hängt am Stuhlrücken. Außerdem zählt die Person, die Anfang vierzig sein dürfte, zu den wenigen Männern Myanmars, die kein blutrotes oder rostbraunes Zahnfleisch haben, das vom ständigen Kauen kleingehackter Betelnüsse ruiniert worden ist.

Verspätete Ankunft

Der Kleinste kommt an meinen Tisch und stellt sich als Zaw Zaw vor (auch ihn habe ich angeschrieben und warte auf ein Lebenszeichen). Er will wissen, wann ich in Mandalay eintraf und aus welchem Ort ich anreiste. Erstaunt erklärt der Mann, dass ich derjenige sein muss, den er nachmittags vom zentralen Busbahnhof der 1,5-Millionen-Stadt auf Anweisung von Zimmervermittler Myo mit dem Moped hätte abholen sollen. Wir hatten uns im Gedränge an- und abfahrender Busse verfehlt, was an meiner verspäteten Ankunft lag, denn der Chauffeur hatte auf der siebenstündigen, schwindelerregenden Anfahrt aus den Bergen in die hitzeflimmernde Tiefebene zusätzlich zur Mittagspause weitere zwei Mal angehalten, damit sein Helfer den profillosen rechten Vorderreifen aufpumpen konnte.

Auch in diesen Tagen klettert das Thermometer auf 35 Grad, in vier Wochen beginnt die Regenzeit. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) befürchtet Seuchen, hat die höchste Notfallstufe ausgerufen.

Zaw Zaw macht kehrt und berichtet seinen Freunden vom Kuriosum, mich doch noch anzutreffen. Der Wortführer steht auf und lädt in die Gruppe ein. Tun Tun bohrt nach Informationen, interessiert sich für die Politik Europas und meinen Beweggrund, Myanmar zu bereisen. Zu vorgerückter Stunde sitzen nur noch wir beide am Tisch und der Mann erzählt aus seinem Leben.

Er wächst auf in einem winzigen Dorf sechs Busstunden nördlich von Mandalay dicht am großen Fluss, den Eltern und Geschwister, zwei Brüder und drei Schwestern, Eravati nennen, die Erquickende. Häufig treibt es den Jüngsten aus der Enge eines auf breiten Pfählen stehenden Holzhauses ans sandige Ufer des Stromes, der auf tibetischem Boden in 4.000 Metern Höhe entspringt, sich durch lange Schluchten windet und irgendwann als sanfter Riese dahingleitet. Die Familie ist dankbar für ihr Dasein am Eravati, da die wichtigste Lebensader des Landes das kümmerliche, von Entbehrungen be-stimmte Leben erträglicher macht.

Ein buddhistischer Mönch vor einer beschädigten Pagode bei Mandalay.  FOTO: DPA
Ein buddhistischer Mönch vor einer beschädigten Pagode bei Mandalay. FOTO: DPA
Ein buddhistischer Mönch vor einer beschädigten Pagode bei Mandalay. FOTO: DPA

An den leicht begehbaren Stellen schaut der Junge den mit Teakholzstämmen oder Kautschuk beladenen Schiffen hinterher, die ihre Ladung nach Mandalay befördern. Sein Vater berichtet von am Dorf vorbeiziehenden Elefantenkarawanen und schwer bewaffneten Milizen, die den mitgeführten Reichtum bewachen: Gold, Taubenblut-Rubine, Jade, Saphire und Seltene Erden wandern auf geheimen Dschungelpfaden als Schmuggelgut zum Drehkreuz Thailand.

Riesige Schlafmohn-Felder

Dorfbewohner erzählen von mit Drogen beladenen Pirogen, die nachts flussabwärts gleiten. Die Langboote stammen aus dem Grenzgebiet zu Thailand und Laos, genannt Goldenes Dreieck, wo auf riesigen Feldern lila- und violettfarbener Schlafmohn meterhoch aus der Erde sprießt. Der milchige Saft der Pflanze ergibt das Rohopium, aus dem Giftmischer in unterirdischen Dschungel-Laboratorien rund um die Uhr tonnenweise Heroin für den Export erzeugen. Tun Tun kennt Opium, denn seine Großeltern inhalieren die Stimulanz mit langen, selbst geschnitzten Bambuspfeifen, wie es seit Urzeiten gang und gäbe ist.

Wenn Tun Tun am Eravati sitzt, beobachtet er auch die scheuen, graublauen Flussdelfine, die ihren melonenförmigen Kopf nur noch selten durch das von Diesel durchzogene Wasser recken. Der Junge liebt alle Tiere, versorgt zu Hause drei Katzen. Niemals käme ihm in den Sinn, gegen eins der Geschöpfe grob zu werden, da die Großeltern früh gelehrt haben, dass auch Tiere fühlen, lieben, leiden und somit Geschwister des Menschen sind. Und wer sich in allen Geschöpfen wiedererkennt, dessen Herz weitet sich, findet den direkten Weg zu innerem Frieden.

Tun Tun ist ein aufgewecktes Kind, achtet auf jeden Handgriff, wenn sein Vater den Ochsen vor den Holzpflug spannt und mit dem Vieh zur mühseligen Arbeit auf die knochentrockenen Äcker zieht. Seine Augen leuchten, wenn er die Zügel bekommt und den Bullen lenken darf. Die Tradition, das Erbe der Väter und Großväter anzutreten, ist ihm nicht fremd. Eines Tages will er selbst Felder bestellen, Kartoffeln, Reis und Gemüse anbauen. Doch die Eltern haben einen anderen Plan, der ihn zum Weinen bringt: Tun Tun muss die Schule besuchen.

Antwort gleicht einer Beichte

Mein Gegenüber ordert Mandalay-Rum mit Eiswürfel und gießt unsere Gläser mit frischem Wasser randvoll. Für Momente presst der Mann die Augen zu, ihn berührt die eigene Geschichte. Ich frage, was ihn traurig macht. Die Antwort gleicht einer Beichte. Weil er seinen gebrechlichen Vater, der im 630 Kilometer südlich gelegenen Yangon, der einstigen Hauptstadt, im Haus des ältesten Sohnes lebt, schon monatelang nicht mehr besucht hat.

Tun Tun darf Mandalay während der »Golden Season« von Anfang Oktober bis Ende März nicht verlassen. Denn in der Hochsaison muss er genügend Geld verdienen, damit die eigene Familie das ganze Jahr über die Runden kommt. Aus dem Dorfjungen ist ein gebildeter, gut beschäftigter Fremdenführer geworden. Was noch weit mehr zählt: Er darf am Fluss seiner Kindheit leben. Aus Eravati wird Irrawaddy, später Ayeyarwady, als Städte, Gewässer und Berge von der Militärregierung andere Namen erhalten.

Kürzlich hat er dem britischen Sänger Sir Cliff Richard einen Tag lang die Attraktionen Mandalays und seiner nahen Umgebung gezeigt. Der Geadelte gibt ein fürstliches Trinkgeld, verrät Tun Tun – und ergänzt, freudestrahlend: Auch ich bin Musiker, habe früher Gitarren gebaut und Stücke von Elvis Presley gespielt. Allerdings heimlich, denn Modernes war verboten. Doch von der Kunst, Instrumente zu fertigen und zu verkaufen, konnte er die Familie nicht ernähren. Auch sollen seine Töchter in einer guten Schule lernen.

In jenen Tagen fühlen sich die einhundertdreißig Ethnien im Land freier. Doch im Hintergrund lauert die Junta, sie kann die Fortschritte schnell zum Stillstand bringen. Man muss unsere Geschichte anschauen und deshalb der Demokratie Zeit geben, sagt Tun Tun und fügt angesichts schwelender Konflikte im fragilen Staatsgebilde bedeutungsvoll hinzu: Wir werden einen langen Atem brauchen.

China kauft ganze Landstriche

Probleme bereitet auch der östliche Nachbar. Die Chinesen kaufen Häuser, Dörfer, ganze Landstriche und zahlen dafür keinen fairen Preis. Sie saugen uns aus. Er lacht. Grund seiner Heiterkeit: Thein Sein, der erste Zivilist im Amt des Präsidenten, bietet dem Imperium die Stirn, in dem er das gigantische Myitsone-Projekt am nördlichen Ayeyarwady gestoppt hat. Weil es nicht der Wille des Volkes sei. Die Bagger am geplanten Wasserkraftwerk, das bis zu 90 Prozent des Stroms für Chinas Provinz Yunnan produzieren soll, stehen still. Für den Bau der Talsperre sollen 47 Dörfer überflutet und die Bewohner zwangsumgesiedelt werden. Womit sie dasselbe Schicksal erlitten wie die Chinesen am Drei-Schluchten-Damm des Yangtsekiang.

Abschied weit nach Mitternacht. Tun Tun zieht sein Sakko über, startet das Moped und taucht ein in die Dunkelheit. Jesube, ich danke dir, weil du mich bereichert hast.

Und danach? Mit Ausbruch von Corona muss Tun Tun seine Arbeit als Stadtführer einstellen. Er berichtet, dass sich der Tourismus von den Folgen der Pandemie nicht erholt hat und er deshalb wieder Instrumente baut. Hoffentlich noch recht lange, und bei bester Gesundheit. (GEA)