Gut eine Woche nach den katastrophalen Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet sind schon fast 40.000 Tote gezählt worden. Zwar wurden auch am Montag noch Menschen aus den Trümmern gerettet, doch die Hoffnung auf Wunder wie diese ist zusehends dahin. Der Unternehmensverband Türkonfed geht davon aus, dass am Ende mehr als 72.500 Tote nach den Beben gezählt werden. Tausende werden noch vermisst, darunter auch eine einstellige Zahl Deutscher, wie ein Sprecher des Auswärtigen Amts am Montag in Berlin sagte. Man müsse davon ausgehen, dass unter den Todesopfern auch Deutsche seien.
Die Zahl der bestätigten Toten lag bis Montagnachmittag bei insgesamt mehr als 37.500, mehr als 80.000 Menschen wurden verletzt.
Der türkische Botschafter Ahmet Basar Sen begrüßte am Montag die Visa-Erleichterungen für Betroffene. »Diese 3 Millionen Menschen aus der Türkei, die hier in Deutschland leben, haben eine enorme Hilfsbereitschaft gezeigt«, sagte er am Montag bei der dpa-Chefredaktionskonferenz in Berlin. »Die sammeln, die tun alles, die sortieren, die schicken. Und zu dieser Hilfsbereitschaft gehört auch, dass sie jetzt ihre Verwandten zu sich holen wollen.«
Ein Außenamtssprecher in Berlin sagte, eine vereinfachte Visavergabe, wie sie für türkische Betroffene des Erdbebens mit Angehörigen in Deutschland vorgesehen ist, sei bei Menschen in Syrien sehr schwierig, schon weil Deutschland dort keine Botschaft habe.
Am frühen Morgen des 6. Februar hatte das erste Beben der Stärke 7,7 das türkisch-syrische Grenzgebiet erschüttert, Stunden später folgte ein zweites Beben der Stärke 7,6. Seitdem gab es bislang mehr als 2400 Nachbeben. In der Türkei sind zehn Provinzen betroffen - dort gilt inzwischen ein dreimonatiger Ausnahmezustand.
In der Südosttürkei kamen bislang etwa 1,2 Millionen Menschen in Notunterkünften unter, rund 176.000 Zelte wurden in den am stärksten betroffenen Provinzen aufgestellt, wie das Präsidialbüro am Montag mitteilte. Die Katastrophenschutzbehörde Afad stellte nach eigenen Angaben Tausende Wohncontainer auf.
Für Syrien schätzt das UN-Flüchtlingshilfswerk, dass das Beben im ganzen Land bis zu 5,3 Millionen Menschen obdachlos gemacht hat. In Aleppo will der Stadtrat für Tausende neue Wohnungen bauen lassen. Wo die Menschen bis dahin unterkommen sollen, ist unklar.
In Syrien herrscht seit 2011 ein Bürgerkrieg. Die Lieferung von Hilfen wird erschwert durch die zersplitterten Gebiete, die teils von der Regierung Baschar al-Assads, von Türkei-nahen Rebellen sowie kurdischen Milizen kontrolliert werden. Die innerstaatliche Hilfe in Syrien stockt noch immer. 52 Lastwagen mit Hilfsgütern aus kurdisch kontrollierten Gebieten für Regionen im Westen des Bürgerkriegslandes seien von Türkei-nahen Rebellen gestoppt worden, teilte am Montag die in London ansässige Aktivistengruppe Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit. Beide Seiten stünden derzeit in Verhandlungen.
Teams von vielen Hilfsorganisationen - auch aus Deutschland - sind seit Tagen im Erdbebengebiet im Einsatz. Die in NRW beheimateten I.S.A.R. Germany und BRH Bundesverband Rettungshunde beendeten nach knapp einer Woche ihren Rettungseinsatz in der türkischen Erdbebenregion. Auch das Such- und Rettungsteam des Technischen Hilfswerks (THW) wollte noch am Montag zurückkehren.
Junge nach 182 Stunden aus Trümmern gerettet
Einsatzkräfte bargen am frühen Montagabend einen 13-Jährigen nach 182 Stunden unter Trümmern. Sie trugen den Jungen in der Provinz Hatay auf einer Liege zum Krankenwagen, wie Bilder des Staatssenders TRT zeigten. Ein Helfer hielt dabei die Hand des Jungen. Überlebende, die nach so vielen Stunden gefunden werden, müssen Zugang zu Flüssigkeit gehabt haben - etwa zu Regenwasser, Schnee oder anderen Quellen. Ein Mensch kommt etwa 72 Stunden ohne Wasser aus, danach wird es lebensbedrohlich.
Während die Rettungsarbeiten laufen, wurde der Flughafen in der Provinz Hatay wieder in Betrieb genommen. Die halbstaatliche Fluggesellschaft Turkish Airlines twitterte Montagfrüh, Einwohner des Erdbebengebietes könnten kostenlos Evakuierungsflüge buchen. Der Flughafen in Hatay war bei dem Beben stark beschädigt worden.
Ein Bericht des Türkischen Unternehmens- und Geschäftsverbands Türkonfed schätzt den Schaden nach den Beben auf etwa 84 Milliarden Dollar (rund 79 Milliarden Euro).
Der Vorsitzende der Kurdischen Gemeinde, Ali Ertan Toprak, warnte indes vor eskalierender Gewalt. »Es macht mir zunehmend Sorgen, dass die Menschen aufeinander losgehen«, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND/Montag). »Viele Ortschaften haben bis heute keine Hilfe erhalten. Deshalb ist die Wut so groß.«
Kritik aus der Opposition
Die Menschen fragen sich auch, weshalb so viele Gebäude einstürzen konnten. Erste Haftbefehle wurden erlassen. Die Beschuldigten sollen für Baumängel verantwortlich sein. Experten kritisieren, dass Bauvorschriften für mehr Schutz vor Beben nicht umgesetzt werden.
Der türkische Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu kritisierte, dass die Regierung im Jahr 2018 eine Bau-Amnestie erlassen habe, mit der illegal errichtete Gebäude gegen Strafzahlung im Nachhinein legalisiert worden seien. »Sie haben die Häuser, in denen die Menschen leben, zum Friedhof gemacht und dafür noch Geld genommen.«
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