Vor der Tür gibt es Sympathiebekundungen, Pfiffe und wütenden Protest, drinnen werden Bilderbücher vorgelesen mit der Botschaft: Trau dich, so zu sein, wie du bist. Doch weil die Vorleser in einer Münchner Stadtbibliothek Dragqueen Vicky Voyage und Dragking Eric BigClit sind, haben unter anderem die AfD und Vertreter der Querdenker-Bewegung zum Protest gerufen. »Finger weg von unseren Kindern« heißt es auf Plakaten, andere warnen vor einer Frühsexualisierung. Die Zahl der Befürworter der Lesung ist am Dienstag aber mehr als doppelt so hoch: Rund 500 junge Menschen, viele bunt geschminkt und kostümiert, erheben ihre Stimmen gegen Hetze und für Diversität und Toleranz - lautstark, aber friedlich, wie die Polizei feststellt.
Für Kinder ab vier Jahren bot die Bibliothek die Lesung mit den Drag-Künstlern an, die mit ihren Kostümen und ihrer auffälligen Schminke in eine Kunstfigur schlüpfen, wie ein Schauspieler in eine Rolle. Und die bewusst damit spielen, dass ein Mann Frauenkleider trägt. »Wir brauchen Vorbilder, die zeigen, dass es okay ist, anders zu sein, das ist die schlichte Botschaft«, sagt der Direktor der Stadtbibliothek, Arne Ackermann.
Das sieht eine Teilnehmerin bei den Gegnern anders. »Ein Mann, der sich als Frau verkleidet und sich große Klitoris nennt - allein wenn der sich schon vorstellt, transportiert er eine sexuelle Erregung, die er den Kindern aufdrängt«, schimpft die Psychotherapeutin. Zwischendurch verschaffen sich sieben Jugendliche der Identitären Bewegung Zutritt zur Bibliothek. Die Lesung finden sie nicht, sie ist in einem anderen Bereich. Kurz darauf führt die Polizei die Jugendlichen ab.
Gebannt lauschen die Zuhörer
Aufreizende Kleider, Geschlechtsteile und sexuelle Anzüglichkeiten - bei der Lesung gibt es sie nicht. Fehlanzeige. Es wird gelacht, gesungen und erzählt. Vicky Voyage schwebt im Prinzessinnenkleid herein, mit schwingendem Rock und Zopf-Perücke. Schnell wird klar, wen sie darstellt: »Lass jetzt los« singt sie, Prinzessin Elsas Lied aus dem Film »Die Eiskönigin - Völlig unverfroren«. Ihr Begleiter stellt sich den Kindern als Prinz Eric vor, im Gewand des »Kleinen Prinzen« von Antoine de Saint-Exupéry.
Gebannt lauschen Kleine und Große der Botschaft, sich nicht zu verbiegen und nichts auf die Meinung anderer zu geben. In »Der Junge im Rock« geht ein Bub im Rock in den Kindergarten. »Echte Jungs ziehen Hosen an«, lästern die Kinder. Felix ist verunsichert - bis sein Vater eine Idee hat. Und in »Flora und der Honigkuss« will eine Prinzessin partout keinen der Frösche heiraten, die ihr die Eltern der Reihe nach vorstellen. Eine Qual für Flora - bis Mila auftaucht.
Die Gegner machten dennoch seit Wochen Stimmung gegen die Lesung, neben der AfD auch Vertreter der CSU und Bayerns Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger, der wegen angeblicher Kindeswohlgefährdung nach dem Jugendamt rief. Und in den sozialen Medien tobte ein Sturm der Entrüstung: Von »Perversen« war die Rede, gar von »Kinderfressern«.
13-Jährige sagt Teilnahme ab
Die Welle an Beschimpfungen wurde der Trans-Autorin Julana Gleisenberg offenbar zu viel. Die 13-Jährige wollte aus ihrem Buch »Julana, endlich ich« lesen. Doch die Anfeindungen hätten in den vergangenen Tagen so stark zugenommen, dass sie ihre Teilnahme abgesagt habe, teilte die Bibliothek mit.
Auch Bibliotheksleiter Ackermann berichtet von Drohungen. »Es ging soweit, dass wir gefragt wurden, ob die Bibliothek kugelsichere Scheiben hat«, sagt er. Vicky Voyage bekam sogar Morddrohungen. Das habe ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. »Die AfD macht gerade Stimmung durch Angst und Unwissen«, meint Dragqueen Pinay Colada, »dass die queere Community jetzt hier rumläuft wie der Rattenfänger von Hameln und versucht, die Kinder zu frühsexualisieren.« Die Dragqueen betont: »Uns ist es einfach nur wichtig, zu zeigen, dass es egal ist, wie du bist, wie du dich fühlst, dass du machen kannst, was du möchtest, solange du niemand verletzt oder beleidigst.«
In ihrer Kindheit gab es solche Lesungen nicht. »Wenn ich als kleiner junger, queerer Ausländer so was gehabt hätte, dann hätte ich mich viel mehr getraut, ich selbst zu sein«, sagt die schwarze Dragqueen. »Wir sind perfekt. Wir sind so schön, wie wir sind. Und das möchten wir weitertragen.« Das wolle die AfD kaputt machen. »Die benutzen das Wort Kindeswohl als Deckmantel für irgendeinen Schwachsinn.«
Eine Meinung ganz im Sinne der Vorlesenden. »Wir haben die Welt heute ein bisschen bunter gemacht, wir stehen für Vielfalt und Toleranz und Diversität«, freut sich Vicky Voyage. Eric BigClit sieht das genauso. Dass sein Künstlername bei vielen für Aufregung sorgte, kann er nicht verstehen. »Keine Angst vor der Klitoris«, sagt er. Das sei nichts anderes als ein medizinischer Fachbegriff für ein Körperteil. »Sie tut nichts, sie beißt nicht, sie ist einfach nur da.«
© dpa-infocom, dpa:230614-99-48036/3