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Britische Polizei warnt vor Hobby-Ermittlern auf Tiktok

Während der aufsehenerregenden Suche nach einer vermissten Frau fällt eine Meute von Hobby-Detektiven in ein englisches Dorf ein. Die Anwohner sind entsetzt, die Polizei wird behindert.

Fundort in Großbritannien
Die Bank, auf der das Telefon der vermissten Mutter am Ufer des Flusses Wyre gefunden wurde. Die englische Polizei warnt vor Hobby-Ermittlern. Foto: Peter Powell
Die Bank, auf der das Telefon der vermissten Mutter am Ufer des Flusses Wyre gefunden wurde. Die englische Polizei warnt vor Hobby-Ermittlern.
Foto: Peter Powell

Zwei Männer buddeln in einem Wäldchen herum, andere steigen über Absperrbänder. Und alles wird gefilmt und ins Netz geladen, meistens bei Tiktok. Die Suche nach einer vermissten Frau hat Großbritannien wochenlang in Atem gehalten - aber auch zahlreiche Schaulustige ins verschlafene Dörfchen St. Michael's on Wyre gelockt.

»Social-Media-Nutzer haben Privatdetektiv gespielt«, sagte Detective Superintendent Rebecca Smith von der Polizei. Diese gab kürzlich bekannt, dass ein 34-Jähriger festgenommen worden sei, weil er unter anderem innerhalb einer Absperrung gefilmt hatte - der Mann war extra 210 Kilometer weit angereist, um die Suche zu beobachten.

Das Verhalten der Gaffer ist ein »Gamechanger«

»Wir hatten Spinner da, Leichenfledderer, die Türklinken aufgedrückt und durch Fenster geglotzt haben«, erzählte Gemeindevorsteher Michael Vincent der Zeitung »Sunday Mirror«. Anwohner Oliver Fletcher sagte der BBC, Wildfremde hätten sein Haus gefilmt, seine Großmutter habe sich nicht mehr hinaus getraut. Für den ehemaligen Polizeichef Bob Eastwood ist das Verhalten der modernen Gaffer in dem Fall ein »Gamechanger«, der alles ändert.

Rückblende: Am 27. Januar bringt eine 45-Jährige ihre Töchter in die Schule, dann geht sie am Fluss Wyre mit ihrem Hund Gassi. Über das Handy loggt sie sich in einen Geschäftsanruf ein - und nie wieder aus. Hund und Telefon werden gefunden, von der Frau fehlt jede Spur. Taucher suchen mehrmals den Fluss ab. Je länger die Suche dauert, desto lauter werden die Spekulationen und umso mehr Schaulustige strömen heran. Im Internet wabern Gerüchte. Schließlich sieht sich die Polizei gezwungen, äußerst private Details aus der Krankenakte der Vermissten zu veröffentlichen. Nach gut drei Wochen wird die Leiche der Frau im Fluss gefunden.

Im Dorf ist der Ärger über die modernen Gaffer groß, die live ihre Spurensuche streamen. Doch das Interesse vor allem auf Tiktok war enorm. Innerhalb von drei Wochen wurden dort Videos mit dem Namen der Vermissten als Hashtag 270 Millionen Mal abgerufen. Die Plattform betonte: »Wir tolerieren weder Mobbing noch Belästigungen auf Tiktok und entfernen Inhalte, die gegen unsere Richtlinien verstoßen.«

Können Soziale Medien bei Emittlungen nützlich sein?

Nicht alle waren sauer auf die ungebetenen Helfer. »Diese Berichte könnten jemanden dazu bringen, sich mit echten Informationen zu melden«, sagte eine Mutter der BBC. Doch andere warnen vor einer großen Gefahr. Mit einer »großen Bestie, gefräßig nach Informationen« vergleicht Ex-Polizist Eastwood die sozialen Medien. »Leute erfinden Dinge, dazu werden Experten gemischt, die keine Beweise haben.«

Ins gleiche Horn stößt die Gewerkschaft der Polizei (GdP). »Hobby-Detektive mit einem Hang zu Social-Media-Aktivitäten stören eher die polizeilichen Ermittlungen, als dass sie diese effektiv unterstützen würden«, sagte der stellvertretende GdP-Bundesvorsitzende Alexander Poitz der Deutschen Presse-Agentur. Zudem könnten Social-Media-Beiträge falsche Verdächtigungen auslösen und Unbeteiligte Nachstellungen und Gefahren aussetzen.

Vergleichbar ist die Aufregung ein wenig mit dem Fall Rebecca, die seit Februar 2019 vermisst wird. Das Bild der 15-jährigen Berlinerin war damals omnipräsent, die Umstände wirkten mysteriös, der Fall wurde wochenlang öffentlich diskutiert. In Großbritannien war es nun das erste Mal, dass das ganze Land auch über soziale Medien gebannt eine Suche verfolgte. Hingegen sind Hobby-Detektive in den USA bereits ein bekanntes Phänomen. Selbst ernannte Experten äußern sich in Scharen auf Youtube und Tiktok zu Kriminal- und Vermisstenfällen.

Viele wollen klüger als die Polizei sein

Den meisten geht es um Anerkennung und darum, ihren Selbstwert zu steigern, wie der Psychologe André Ilcin der dpa sagte. Mit ihren Videos bewiesen sie, bei einer wichtigen Sache ganz nah dran zu sein - und hofften auf ein paar Sekunden Ruhm. Dazu komme Angst, etwas Wichtiges zu verpassen. Dieses Gefühl sei vor allem in sozialen Medien weit verbreitet - einen Namen dafür gibt es längst: FOMO, Fear of Missing Out. Dabei spiele das Internet eine große Rolle, sagte Ilcin, Mitglied im Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP). Im riesigen Resonanzkörper des World Wide Web finde sich jeder wieder, auch wenn er noch so verrückten Ideen anhängt.

»In manchen Fällen kommt es zu einer Identitätsverschiebung«, sagte Ilcin. Solche Menschen lebten sich etwa als Polizisten aus, im Glauben, klüger zu sein als die Ermittler, teils angetrieben von raschen Lösungen in TV-Krimis. »Ein langjähriges Studium von Detektivfilmen ersetzt weder eine kriminalpolizeiliche Ausbildung noch die jahrelange Erfahrung routinierter Ermittler«, warnte GdP-Vize Poitz. Psychologe Ilcin verwies auf den sogenannten Dunning-Kruger-Effekt: Das eigene Selbstbild stimmt nicht mit der Realität überein. Stattdessen werde der Jagdinstinkt geweckt, die eigene Teilnahme diene als Kick.

Klar dürfte sein, dass die Polizei sich in Zukunft verstärkt auf Tiktok-Detektive einstellen muss. Die GdP appelliert an die Vernunft: »Lasst die Polizei ihre Arbeit machen. Warum? Weil sie es kann.«

© dpa-infocom, dpa:230313-99-933535/3