Manchmal hat man das Gefühl, in Deutschland läuft eine Soap, bei der Millionen Menschen mitreden. Manchmal geht es um ausrangierte Matratzen am Straßenrand, manchmal um verkorkste Bauprojekte wie den BER. Immer ließe sich die Serie in einem Satz zusammenfassen: »In Berlin hat mal wieder jemand was verbockt.« Neuerdings geht es um die Frage, wie es passieren konnte, dass eine ganze Stadt wegen Pannen eine Wahl wiederholen muss.
Meist dauert es nicht lange, bis aus anderen Ecken der Republik dann Kommentare kommen. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) gehört zu denen, die gerne einen markigen Satz parat haben. Nun weiß man, dass sich das Leben doch etwas komplexer gestaltet. Und wenn in Berlin so vieles schief läuft, warum ziehen dann trotzdem so viele Menschen dorthin?
»Man kann«, sagt Mazda Adli, »die Frage eigentlich auch fast zur Antwort machen«. Gerade das Unvollkommene mache Berlin durchaus auch attraktiv. Adli ist Chefarzt der Berliner Fliedner Klinik, Stressforscher an der Charité und leitet unter anderem die Forschungsgruppe Neurourbanistik, die sich mit dem Einfluss von Stadtleben auf die Psyche befasst.
Stablilisator »Regional-Bashing«
Dass aus anderen Regionen Deutschlands hämische Kommentare kommen, scheint ihn wenig zu überraschen. »Regional-Bashing ist ja in Deutschland ganz besonders beliebt«, sagt Adli. Das diene auch dazu, den eigenen Selbstwert zu stabilisieren. Die meisten machten das auch mit einem Augenzwinkern. Und natürlich sei etwa eine Stadt wie Würzburg viel leichter zu verwalten als eine Multimillionenstadt.
Berlin sei schon immer eine Stadt gewesen, die etwas dysfunktional getickt habe. »Ich habe selber mal in einem Buch geschrieben: «Berlin ist in einer Art Dauerpubertät»«, sagt Stressforscher Adli. »Ständig ändert sich was. Ständig muss sich auch neu erfunden werden. Und so anstrengend das ist, so attraktiv ist es für Menschen, die genau danach suchen.« Das Unvollkommene könne auch entlastend sein. »Man muss eben nicht perfekt sein, um hier was zu zählen.«
Wenn man in Berlin lebt, kann man - sagen wir mal - allerhand Interessantes beobachten. Im U-Bahnhof stellt sich nicht selten die Frage, wer da wieder hingekotzt hat. Erwachsene Männer tragen manchmal lilafarbene Schneeanzüge. Moderatorin Bettina Rust postete bei Instagram neulich ein Bild von einem öffentlichen Mülleimer, in dem Pflanzen steckten: »In Berlin nennen wir es Vase.«
Berlin ist die Stadt der Oberschenkeltattoos, des glasierten Endiviensalats und der beleuchteten Imbissbuden. Von seinen Nachbarn kann man lernen, was »Blech rauchen« bedeutet - nämlich dann, wenn im Treppenhaus jemand Drogen auf einer Alufolie geraucht hat. Im Café bekommt man Lavendel-Earl-Grey »with oatmilk« (Hafermilch). Und am Tresen unter der Kaufhausrolltreppe ein kleines Bier für 2,30 Euro.
Wenn an der S-Bahn Lady Gaga tönt
Berlin ist eine Stadt, in der Menschen ihre Kleingärten pflegen und den See lieben. An den Stadträndern leben Leute in Einfamilienhäusern und in der rbb-»Abendschau« erzählen manche engagiert, warum dringend etwas gegen eine nervige Umleitung getan werden müsse. In einem Nachbarschaftsportal fragt jemand nach einem Knäuel Wolle, um etwas fertig zu stricken. Und mittags sieht man auch mal Leute am S-Bahnsteig, die laut Lady Gaga hören: »Just dance!«
Vor allem ist Berlin aber eine Stadt, in der fast vier Millionen Menschen irgendeine Form von Alltag verbringen. Arbeiten, essen, schlafen. Sich um Familie und Freunde kümmern. Mit dem Hund rausgehen. Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) zeigt bei Facebook oft ein bürgerliches Bild von sich. Giffey im Fußballstadion. Giffey beim Bürgergespräch. Giffey beim Marmeladekochen.
Mit dem pauschalen Draufhauen von außen wird man der Stadt nicht gerecht. Und gleichzeitig haben auch Menschen in Berlin das Gefühl, dass Dinge im Argen liegen. In Gesprächen geht es dann etwa um marode Infrastruktur und ausgefallene Bahnen, um die Ausstattung von Schulen und steigende Mieten, um umstrittene Verkehrsprojekte und die Frage, wer sich die Stadt auf Dauer wird leisten können.
Nicht jeder darf kritisieren
Dass das pauschale Image »Pannenstadt« die Dinge selten trifft, heißt nicht, dass sich die Menschen in Berlin selbst keine Gedanken machen. Schauspieler Ulrich Matthes findet dafür ein schönes Bild. »Das ist ja wie mit der Familie«, sagt Matthes. Man selber könne an den Eltern rummeckern. »Aber wenn die Klassenkameraden das tun, wirft man sich sofort vor die Eltern und sagt den anderen: «Du spinnst wohl.»«
»Genauso werfe ich mich vor das Berlin-Bashing von außen, bin aber selber doch zunehmend ein kritischer Berliner«, sagt Matthes, der am Deutschen Theater arbeitet und Präsident der Deutschen Filmakademie war. »Ich als gebürtiger Berliner habe mich dabei ertappt, dass ich im Vorfeld dieser Wahlen zum ersten Mal in meinem Leben dachte: «Diesmal weißt du wirklich nicht, wen du wählen sollst.»«
Wenn man tiefer eintauchen möchte in die Frage, warum in Berlin manches schief läuft, kann man sich zum Beispiel mit der Geschichte der Stadt befassen und mit ihrer eigenwilligen Struktur. Neben dem Roten Rathaus gibt es die Bezirke, jeder so groß wie eine Stadt und jeder mit eigener Bürgermeisterin oder eigenem Bürgermeister. Über Reformen dieser Struktur wird seit Langem diskutiert. Manche glauben, dass es auch beim politischen Personal mitunter hapert. Eine These: Die Stadt Berlin steht in Konkurrenz mit der Bundespolitik in Berlin.
Mehr Verantwortlichkeit nötig
Wenn es um die Frage geht, wie gut die Politikerinnen und Politiker auf Berliner Landesebene sind, zitiert Matthes einen Spruch seiner Oma: »Da schweigt des Sängers Höflichkeit.« Er sieht die Menschen auch selbst in der Pflicht: »Ich habe das Gefühl, jeder Berliner, jede Berlinerin müsste sich - das denke ich schon seit Jahren - einfach verantwortlicher fühlen für das Gelingen dieser Stadt.« Das gelte für Verkehr, Sauberkeit und Umgangston in der Stadt.
»Was mich zum Beispiel, um kurz anekdotisch zu werden, wirklich geradezu verstört hat: Nachdem die Stadtreinigung bei mir die blauen Papiertonnen abgeholt hatte, war ein riesiger Pappendeckel vor meiner Haustür aus der Mülltonne gefallen«, erzählt Matthes am Telefon. »Und diesen Pappendeckel habe ich aufgehoben, um ihn dann in die geleerten blauen Tonnen zu schmeißen.« Er habe einfach gedacht: »Na ja, warum soll ich denn das nicht machen?«
"Und in dem Moment gingen zwei ungefähr 40-jährige Frauen vorbei, lachten sich darüber halb tot. Und die eine sagte zur anderen: "Ah, jetzt gibt's wohl auch in Berlin schon die Kehrwoche", erzählt Matthes. Für ihn sei das aber eine Selbstverständlichkeit gewesen. "Irgendjemand wird sich danach bücken müssen. Also was kostet es mich, das selber zu machen?"
In der Schlafanzughose zum Wochenmarkt
Gelassenheit kann in Gleichgültigkeit kippen. Und dann kann es passieren, dass Systeme sich gegenseitig verstärken. Nehmen wir ein harmloses Beispiel - die Schlafanzughose. Man kann damit in Berlin wunderbar zum Wochenmarkt gehen, es wird keiner gucken. »Genau«, sagt Adli. »Aber es ist eben auch etwas Ambivalentes daran.« Denn wenn man grundsätzlich auch in Schlafanzughose rausgehen kann, dann tun Menschen es eben auch.
Seiner Meinung nach schafft es Berlin gut, Unterschiedlichkeiten auszuhalten, das »Nebeneinander von sehr bürgerlicher Seite bis hin zur autonomen Szene«. »Die Stadt zerfällt nicht zwischen ihren vielen Communitys, Szenen und sozialen Gruppen. Sondern sie ist trotz aller Unterschiede ein Ganzes.« Das sei schon eine Leistung, die andere Städte nicht so leicht nachmachen könnten. »Das kann man vielleicht noch von New York sagen.«
Wenn man Adli fragt, was ihn an Berlin nervt, dann fällt ihm ein konkretes Beispiel ein. »Mich nervt, dass der Gendarmenmarkt jetzt für zwei Jahre umgebuddelt wird«, sagt er. »Das nervt mich, weil ich denke: «Mensch, der angeblich schönste Platz Europas, der so viele Touristen anzieht und von dem wir alle auch leben, der ist - wie neulich jemand schrieb - zum größten Sandkasten der Stadt geworden.» Und kein Mensch weiß, warum das so lange dauern muss.«
Wann ist eine Stadt eine Stadt?
Auch scheinbar unkoordinierte Absperrungen könnten stören. »Das ist natürlich auch ein schlimmes 0815-Lamento, über eine Straßensperrung zu jammern«, sagt Adli. Dass einen auch mal etwas stört, gehört seiner Meinung nach dazu, wenn man in einer Stadt lebt. »Eine Stadt, die nicht nervt, eine Stadt, die uns nicht auch mal unter Stress setzt, ist eben auch keine Stadt.«
Adli nennt in der Debatte übrigens einen wichtigen Punkt: »Die Leute stimmen am Ende mit ihrem Verhalten über Berlin ab. Nämlich damit, dass mehr Leute nach Berlin ziehen als von Berlin weg.« Die Stadt wachse. Manche meckern und mosern seit Jahren über Berlin, wohnen aber immer noch hier. »Und das zeigt vor allem eins: Dass es hier - anders als aus Bayern behauptet - eben ganz gut ist wie es ist.«
Fragt man Ulrich Matthes, was Berlin für ihn ist, dann antwortet er, Berlin sei seine Heimat. »Ich bin ja sogar gerührt, wenn ich zufällig aus den 50er Jahren das Lied höre «Der Insulaner verliert die Ruhe nicht». Kennen Sie das?«, fragt Matthes und beginnt zu singen. »Das ist ein Westberliner Lied, ein klassisches Lied aus dem Kalten Krieg. Wenn ich dieses Lied höre, dann denke ich: Ja, das ist eine typische Berliner Eigenschaft. Der Berliner verliert die Ruhe nicht.«
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