Zwar leben immer mehr Menschen auf der Erde, doch langfristig wird die Weltbevölkerung aller Voraussicht nach wieder schrumpfen. So dürften einer neuen Analyse zufolge bis zum Ende des Jahrhunderts die allermeisten Länder der Welt mit sehr niedrigen Geburtenraten konfrontiert sein.
Ein renommiertes Expertenteam schätzt im Fachblatt »The Lancet«, dass im Jahr 2100 weltweit nur noch sechs Staaten - Samoa, Tonga, Somalia, Niger, Tschad, Tadschikistan - über der Marke von 2,1 Kindern pro Frau liegen. Dieser Wert gilt allgemein als Schwelle, um die Bevölkerung durch Geburten langfristig auf einem konstanten Niveau zu halten.
Für die übrigen 198 Länder gehen die Forschenden davon aus, dass die Geburtenrate im Jahr 2100 unter der Marke von 2,1 liegt. Die Zahl der Menschen dürfte dort langfristig sinken, wenn nicht durch Einwanderung gegengesteuert werde, schreibt das Team unter Leitung des Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME) der US-amerikanischen University of Washington in Seattle. Im Jahr 2050 werden der Prognose zufolge bereits 155 Länder unter der 2,1-Schwelle liegen (2021: 110).
»Wir stehen im 21. Jahrhundert vor einem erschütternden sozialen Wandel«, sagte IMHE-Forscher Stein Emil Vollset laut Mitteilung. Die Welt werde gleichzeitig mit einem Baby-Boom in einigen Ländern und einem Nachwuchsmangel in vielen anderen Ländern konfrontiert sein. Mitautorin Natalia Bhattacharjee ergänzt: Die Entwicklung werde »die Weltwirtschaft und das internationale Machtgleichgewicht völlig umgestalten und eine Neuordnung der Gesellschaften erforderlich machen«. Es werde einen harten Wettbewerb um Migranten geben, um das Wirtschaftswachstum aufrechtzuerhalten.
Vorhersagen sind mit Unsicherheit behaftet
Für Catherina Hinz, geschäftsführende Direktorin am Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, bestätigt der neue Bericht den auch von anderen Institutionen angenommenen Trend. Sie gibt aber zu bedenken, dass solche Schätzungen durchaus mit Vorsicht zu genießen sind. »Projektionen, die mehr als 25 Jahre in die Zukunft gehen, sind super unsicher«, sagte Hinz, die nicht an dem Bericht beteiligt war, der Deutschen Presse-Agentur. Schließlich könne niemand mit absoluter Gewissheit vorhersagen, wie sich Wirtschaft, Gesellschaft und Gesundheit in den Regionen der Welt entwickeln.
Zwischen 1950 und 2021 sei die Geburtenrate global gesehen von etwa 5 auf 2,2 gesunken, zum Ende des Jahrhunderts werde sie bei 1,6 liegen, sagt das Team um die IHME-Forschenden nun in »Lancet« voraus. Zum Vergleich: Die Schätzungen der Vereinten Nationen (UN) waren in einem Bericht von 2022 mit rund 1,8 etwas weniger drastisch. Damals ging die UN davon aus, dass die Weltbevölkerung ihren Höchststand in den 2080er Jahren mit 10,4 Milliarden Menschen erreichen wird. Derzeit wird von rund 8,1 Milliarden Menschen ausgegangen.
Für Westeuropa sagt der von der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung finanzierte »Lancet«-Bericht eine Geburtenrate von durchschnittlich 1,37 im Jahr 2100 voraus. Für Deutschland teilte das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung mit, dass die Geburtenrate in Deutschland innerhalb der vergangenen beiden Jahre deutlich zurückgegangen sei, von 1,57 Kindern pro Frau im Jahr 2021 auf rund 1,36 im Herbst 2023. Der Rückgang könnte laut Bundesinstitut an den weltweiten Krisen derzeit liegen.
Was tun bei wenig Nachwuchs?
Für 13 Länder prognostiziert der »Lancet«-Bericht eine Geburtenrate im Jahr 2100 von unter 1, darunter Südkorea, Taiwan sowie Bosnien und Herzegowina. Für Regierungen in Staaten, die künftig niedrige Geburtenraten haben, stellen sich laut Demografie-Expertin Hinz Fragen wie: Wie hält man angesichts der schrumpfenden Bevölkerung die Wirtschaft am Laufen? Welche Rolle soll Einwanderung spielen? Und wie soll sie organisiert sein? Wie sollen weniger junge Menschen mehr Seniorinnen und Senioren finanzieren? »Die Politik muss bei ihrer Planung für die Zukunft die demografische Entwicklung stärker in den Blick nehmen.«
Grundsätzlich sieht Hinz die sinkenden Geburtenraten rund um den Globus aber positiv. Ein solcher Rückgang sei in der Regel ein Hinweis auf eine höhere Lebenserwartung und mehr Bildung für Frauen. In anderen Worten: »Verbesserungen bei den Lebensbedingungen gehen mit sinkenden Kinderzahlen einher.«
Mancherorts wächst Bevölkerung weiter
Vor allem in Ländern südlich der Sahara werde es aber weiterhin vergleichsweise hohe Geburtenraten geben, heißt es in dem »Lancet«-Bericht. In diesen Staaten - viele davon politisch und wirtschaftlich instabil, hitzebelastet und mit maroden Gesundheitssystemen - dürfte die Bevölkerung im Laufe des 21. Jahrhunderts weiter wachsen.
So geht das Forschungsteam davon aus, dass in etwa 75 Jahren mehr als die Hälfte aller weltweit geborenen Babys in Subsahara-Afrika zur Welt kommen. »Das verdeutlicht, dass in diesen Ländern der Zugang zu modernen Verhütungsmitteln und die Bildung der Frauen dringend verbessert werden muss«, schreibt das Team in einer Mitteilung.
Als Grundlage ihrer Prognosen verwendeten die Forschenden Daten des Berichts »Global Burden of Disease« von 2021. Für ihre Schätzungen erstellten sie Vorhersagen unter anderem zur Sterblichkeit, Geburtenraten, Bildungsniveau, Mangel an Verhütungsmöglichkeiten, Kindersterblichkeit und Verstädterung.
Die Deutsche Expertin Hinz geht davon aus, dass der allgemeine Trend bei den Geburtenraten weitergeht. Zwar könnten künftige Krisen wie Kriege und klimabedingte Katastrophen die Entwicklung zeitweilig bremsen. »Aber der große Tanker Weltbevölkerung ist nur schwer aus dem Fahrwasser zu bringen.«
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