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Arbeiten, wo andere Urlaub machen

Die neuen Gäste kommen mit Laptop: Tourismusregionen buhlen um Digitalnomaden

Arbeit mit Aufstiegsmöglichkeiten: Südtirol lockt ortsunabhängige Berufstätige.  FOTO: FERRIGATO/IDM SÜDTIROL-ALTO ADIGE
Arbeit mit Aufstiegsmöglichkeiten: Südtirol lockt ortsunabhängige Berufstätige. FOTO: FERRIGATO/IDM SÜDTIROL-ALTO ADIGE
Arbeit mit Aufstiegsmöglichkeiten: Südtirol lockt ortsunabhängige Berufstätige. FOTO: FERRIGATO/IDM SÜDTIROL-ALTO ADIGE

LAS PALMAS/BOZEN. Berggipfel strecken ihre Zacken in den Himmel, Burgen trutzen über Weinhängen, Lärchen leuchten, auf dem Teller dampfen Speckknödel. Es lässt sich gut Urlaub machen in Südtirol – oder auch nur Mittagspause. Denn die Tourismusregion in der nördlichsten Provinz Italien will nicht mehr nur Dauermüßiggänger locken. Sie wirbt nun auch um Menschen, die von dort aus ihr Geld verdienen – und damit sind keine Familienväter gemeint, die während der einwöchigen Ferien ein paar Geschäftsmails beantworten. »Unser Zielpublikum sind Menschen, die für einen längeren Zeitraum von ein bis drei Monaten von Südtirol aus arbeiten und nebenher die schöne Natur und die Kulinarik genießen«, sagt Mirjam Lanz von IDM Südtirol, ein Verband zur Förderung der nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung Südtirols.

Viele aus Kreativbranche

»Workation« heißt dieses Konzept, eine Neuschöpfung aus den englischen Wörtern »Work« (Arbeit) und »Vacation« (Urlaub). Es unterscheidet sich allerdings von Travel-and-Work-Programmen, bei denen Reisende vor Ort bei Landwirten oder als Kellner anheuern. Die Gäste gehen vielmehr ihren eigenen Berufen nach, wofür sie nicht mehr als einen Internetanschluss benötigen. Experten sprechen auch von »Remote Work«, Fernarbeit also, die überall auf der Welt erledigt werden kann. Die Workation-Klientel der IDM Südtirol kommt vorwiegend aus der Tech- und Kreativbranche. Die Pandemie hat dieses ortsunabhängige Arbeiten aus der Nische katapultiert. »Mit Corona ist das Thema Workation topaktuell geworden«, sagt Mirjam Lanz. IDM Südtirol bündelt rund 100 Workation-geeignete Gastgeber auf einer gemeinsamen Plattform. Jugendstil-Villen in Meran sind ebenso darunter wie Bauernhöfe mit Dolomitenblick. Kriterien sind neben schnellem WLAN ein Wäscheservice und die Nähe zu einem Coworking Space, also zu Großraumbüros, in denen Freiberufler und Start-Ups Arbeitsplätze anmieten können. Auch die Nachwuchsbetreuung in örtlichen Kitas vermittelt IDM.

Bereits vor Corona begeisterten sich insbesondere Jüngere für das Arbeiten weit weg von Heimat und der immer gleichen Kantinenremoulade. Mit Fernweh und Laptop zogen sie aus, um neben türkisfarbenen Ozeanen zu Glück und Gehalt zu kommen. »Digitalnomaden« nennt sich das Phänomen. Ihren Unterhalt verdienen sie als App-Entwickler, Programmierer, Texter oder Blogger – und sie teilen ihren Lebensstil ohne Alltagsgrau gerne mit. Der Hastag #digitalnomad hat Millionen Einträge auf Instagram. E-Commerce-Unternehmer aus London posieren in balinesischen Brandungswellen, dänische Medienschaffende gondeln durch südafrikanische Canyon-Schluchten. Immer mehr Destinationen machen sich den Trend zur Arbeit von Sehnsuchtsorten aus zunutze. Hotels und Vermieter integrieren Arbeitsbereiche neben Suiten und Speisesälen, neue Quartiere entstehen, in denen die Bewohner gemeinsam leben und kreativ sein sollen. Die Infrastruktur für Digitalnomaden wächst und wächst.

In Brandenburg etwa entstand aus einem ehemaligen Gutshof das »Coconat« mit Platz für 50 Digital- und Kopfarbeiter. Eine Stunde von Berlin sollen gestresste Großstädter an Arbeitsplätzen drinnen oder am Teich Inspiration finden, sich bei Yoga oder Spaziergängen durch den Obsthain erholen und beim gemeinsamen vegetarischen Mittagessen austauschen. Im »Chateau Coliving« in der französischen Normandie, einem 900 Jahre alten Schloss, hat das Büro Lüster, Goldvorhänge und einen getäfelten Holzboden, im indonesischen »Bali Bustle« Flamingo-Tapete und Poolzugang. In der Arctic Coworking Lodge auf den norwegischen Lofoten können digitale Arbeiter nach Feierabend im Nordmeer surfen, auf verschneite Berge steigen oder quietschgrüne Polarlichter bestaunen. Jobfrust? Existiert dort angeblich nicht. Der Beruf wird Teil einer Robinsonade. Die Lodge versteht sich als »sozialer Raum, in dem Träume geteilt, Abenteuer geplant und Entdeckerbatterien aufgeladen werden«. In Barcelona buhlen Tourismusverband und Provinzialrat gemeinsam um Menschen, die wie Einheimische leben und arbeiten wollen, und bieten kostenlose Beratung und Betreuung.

Für Nadine Riemann war das norddeutsche Schmuddelwetter das K.-o.-Kriterium: »Ich wollte in ein Land, in dem es im Winter warm ist.« Vor knapp vier Monaten hat die 23-Jährige alle Möbel verkauft und ist mit Laptop und einem Koffer Kleider von Bremen nach Gran Canaria geflogen. Jetzt arbeitet sie als selbstständige Kauffrau für Marketingkommunikation von der spanischen Insel aus und gönnt sich vor Arbeitsbeginn erst einmal einen Strandspaziergang mit Atlantikbrise. Im Januar will sie nach Madeira weiterziehen. Vorteil dieser Lebensweise: »Man verfällt viel seltener in einen Trott.« Andererseits sei es auch anstrengend, sich immer wieder auf neue Leute einstellen zu müssen. Richtig eng werden Freundschaften fast nie. Zurzeit bewohnt Riemann mit anderen Fernarbeitern aus Irland, Belgien und Österreich ein Penthouse in der Hauptstadt Las Palmas. Neben ihrem Zimmer steht ihr ein Arbeitsbereich zur Verfügung. Und eine Dachterrasse. »Riesig« sei die.

Das Leben von Fernarbeitern

Solche Coliving und Coworking Spaces bringen einerseits Ruhe – die beispielsweise in Internetcafés an Mittelmeerpromenaden selten herrscht. Und sie vernetzen. Allein mit Notebook kann es in der weiten Welt schnell einsam werden. Digitalnomaden verhalten sich meist nicht anders als Touristen, haben wenig Kontakt zu Einheimischen und beherrschen oft die Landessprache nicht, sagt Dieter Zapf, Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität Frankfurt. Karrierefixiert sind Digitalnomaden seiner Einschätzung nach nicht: »Das Grundmotiv dieser Leute ist eine sehr starke Freizeitorientierung.« Wie motivieren sich Menschen aber überhaupt noch zum Arbeiten, wenn ständig Strand und Schnorchel locken? Laut Zapf schon aus reinem Überlebenswillen: Weil viele Digitalnomaden Freelancer seien, müssten sie sich um Aufträge bemühen, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Ob Dauersonnenschein statt deutscher Wintertristesse mehr puscht oder vom Broterwerb abhält, lasse sich schlecht generalisieren. »Ich habe Arbeitskollegen in Südspanien, die arbeiten ganz normal wie wir auch«, sagt Zapf. (GEA)

 

Berufsverkehr gibt es hier nicht: Digitalnomadin Nadine Riemann genießt ihrem Morgenspaziergang auf der spanischen Insel Gran Ca
Berufsverkehr gibt es hier nicht: Digitalnomadin Nadine Riemann genießt ihrem Morgenspaziergang auf der spanischen Insel Gran Canaria. Foto: PATRICK SCHULZE
Berufsverkehr gibt es hier nicht: Digitalnomadin Nadine Riemann genießt ihrem Morgenspaziergang auf der spanischen Insel Gran Canaria.
Foto: PATRICK SCHULZE