Nach einer halben Stunde bricht es aus der Schwester des Opfers heraus. »Du wirst Deine gerechte Strafe erhalten«, schreit sie dem ergrauten Mann auf der Anklagebank in türkischer Sprache entgegen.
Jenem Menschen, der während einer Frühschicht im Mai in der Sindelfinger Mercedes-Produktionshalle wie aus heiterem Himmel eine Waffe gezogen und auf ihren Bruder und einen weiteren Kollegen geschossen hat. Jenem Menschen auch, der durch diese tödlichen Schüsse das Leben von zwei Familien zum Beben gebracht und in den Grundfesten verändert hat. Die Schwester trägt ein schwarzes T-Shirt mit dem Konterfei ihres Bruders: ein freundliches Gesicht, weißes Hemd, lockerer schwarzer Schlips und dunkles Sakko.
»Für die Familien war die Zeit danach eine Achterbahn der Emotionen. Es sind Familien, die zerstört worden sind«, sagt der Anwalt der zwölf Nebenkläger zum Auftakt des Mordprozesses gegen den mutmaßlichen Schützen vor dem Stuttgarter Landgericht. »Die Angehörigen haben Fragen, sie können sich die Tat nicht erklären, sie ist völlig unverständlich. Monatelang kannten sie kein Motiv.«
Vielleicht wird sich ein solches auch im Laufe des auf mindestens zwei Monate angelegten Prozesses nicht finden lassen. Die Opfer sind tot, der Angeklagte will sich im Laufe des Prozesses nicht zu allen Fragen äußern und seine Erklärung am ersten Tag stößt bei den Angehörigen auf absolutes Unverständnis. In einer von seinem Anwalt verlesenen Stellungnahme übernimmt der Mann die Verantwortung für die Schüsse auf seine beiden türkischen Landsleute. »Er bereut dies sehr«, erklärt der Verteidiger des Mannes im Namen seines Mandanten. »Er wünscht sich, die Zeit zurückdrehen zu können.«
Anwalt: »Der seidene Faden, an dem sein ganzes Leben hing«
Sein Mandant habe sich nach eigener Aussage von seinen beiden türkischen Landsleuten und Vorgesetzten gemobbt und gedemütigt gefühlt, lässt er verlesen. »Er hatte das Gefühl, dass er es ihnen nicht recht machen kann«, sagt sein Anwalt. »Sein Arbeitsplatz war der seidene Faden, an dem sein ganzes Leben hing.« Als Mitarbeiter einer Speditionsfirma auf Probezeit sei ihm an jenem Morgen in der Produktionshalle zudem mit einer Kündigung gedroht worden.
Für seinen Mandanten hätte das erneute Abrutschen in die Arbeitslosigkeit schwere, aus seiner Sicht lebensgefährliche Folgen gehabt: Der 1970 geborene Mann habe keine Aufenthaltserlaubnis. Er besitze nur eine sogenannte Fiktionsbescheinigung, weil sein Reisepass wegen regierungskritischer Äußerungen vom türkischen Konsulat nicht verlängert worden sei. Ohne Arbeitsplatz hätte er aber Deutschland und damit seine hier von ihm getrennt lebende Familie verlassen und zurück in die Türkei ziehen müssen. Und dort hätte ihm aus seiner Sicht aufgrund seiner Gesinnung die Verhaftung gedroht. Er habe zudem "darüber hinausgehende Repressalien möglicherweise bis hin zu seiner Ermordung" befürchtet", verlas der Anwalt weiter.
»Eine Art Blackout«
Am Tag der Schüsse sei ein einfacher Streit über das banale Aufladen eines Elektrowagens völlig eskaliert, bis sich sein Mandant im Streit verloren habe. »Für ihn war in diesem Moment alles zu Ende. Er drehte vollkommen durch, wie eine Art Blackout«, sagte der Anwalt. »Er erfasste erst danach, was er getan hatte.« Eine politisch motivierte Tat seien die Schüsse aber keineswegs gewesen, sondern »ein Ausdruck tiefer Verzweiflung in hoher affektiver Erregung«.
Der mutmaßliche Täter und die Opfer waren bei derselben Logistikfirma auf dem Werksgelände beschäftigt. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft hatte der 1970 geborene Mann seine zwei 44 und 45 Jahre alt gewordenen Vorgesetzten »absichtlich« und »heimtückisch« aus wenigen Dutzend Zentimetern Entfernung erschossen. Die Opfer hätten »in keiner Weise« mit dem Angriff ihres Mitarbeiters gerechnet, sagte der Staatsanwalt.
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