Die Notdurft war wohl nur der Vorwand: Ein 47-Jähriger Angeklagter ist am Montag aus dem Landgericht in Coburg geflüchtet. Suchhunde und Polizeihubschrauber machten sich zunächst vergeblich auf die Fährte des Mannes, der wegen des Verdachts auf sexuellen Missbrauch seiner beiden Töchter vor Gericht stand und auch in Untersuchungshaft saß. Der Fall in Coburg ist der zweite binnen weniger als zwei Monaten, bei dem ein Angeklagter eine Verhandlung vor einem bayerischen Gericht zur Flucht nutzt.
Ein verurteilter Mörder war im Januar in Regensburg - wie im Coburger Fall - ebenfalls durch ein nicht ausreichend gesichertes Fenster im Erdgeschoss des Gebäudes geflohen. Erst nach Tagen konnten ihn französische Polizisten 110 Kilometer nördlich von Straßburg dingfest machen. Polizei und Justiz in Bayern atmeten auf - und gelobten Besserung.
Innenminister kündigt Konsequenzen an
Die Landtags-Opposition forderte umfassende Aufklärung und eine Verschärfung der Sicherheitsvorkehrungen. Die Vorfälle nährten Zweifel an der Sicherheit bayerischer Gerichtsgebäude, hieß es quasi gleichlautend von Grünen und FDP. Justizminister Georg Eisenreich (CSU) müsse im Rechtsausschuss des Landtags dazu berichten, verlangte die FDP. Die SPD forderte eine engere Abstimmung zwischen der Polizei und dem Gerichtsvollzugsdienst.
Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) kündigte umgehend Konsequenzen an. »Das ist völlig indiskutabel, wenn einem Häftling die Flucht gelingt. Ich erwarte vom Polizeipräsidium Oberfranken eine umfassende Aufklärung zu den Hintergründen der Flucht«, sagte Herrmann. Bereits nach der Flucht des Häftlings in Regensburg seien alle Polizeipräsidien eingehend sensibilisiert worden, betonte Herrmann und kündigte an: »Gemeinsam mit der Justiz werden wir den vorliegenden Fall zum Anlass nehmen, die Einsatzkonzeptionen zur Bewachung von Häftlingen auf den Prüfstand zu stellen.«
Justizminister Georg Eisenreich (CSU) betonte, er habe angeordnet, dass jedes bayerische Gericht seinem Ministerium über ihr Sicherheitskonzept berichten müsse. "Es ist nicht hinnehmbar, wenn Gefangenen die Flucht aus bayerischen Gerichten gelingt, sagte der Minister. "Sicherheitslücken sind nicht akzeptabel."
Dem Angeklagten werden 100 Missbrauchsfälle zur last gelegt
Was Polizei und Justiz besonders in Erklärungsnöte bringt: Der Fall in Coburg ist nahezu baugleich zu der Regensburger Gerichtsflucht: Das Gericht ordnete den Verzicht auf Fußfesseln für die Dauer der Verhandlung an, sagte ein Gerichtssprecher. Eine Erlaubnis, die Fesseln auch während der Sitzungsunterbrechung nicht anzulegen, habe es nicht gegeben. Dennoch seien die Fußfesseln nicht wieder befestigt worden.
Genau diesen Umstand konnte der 47-Jährige offensichtlich nutzen: Fluchtartig verließ er nach Darstellung des Sprechers das Obergeschoss des Gerichtsgebäudes, wo die Verhandlung stattfand, über die Treppe. Er wandte sich in einen Aufenthaltsraum im Erdgeschoss, brach das Schloss des Fensters auf und entkam. Beamte von Polizei und Justiz kamen nicht mehr hinterher.
Bei dem Geflüchteten handelt es sich um einen siebenfachen Vater. Ihm wird vorgeworfen, seine beiden Töchter sexuell missbraucht zu haben. Insgesamt werden ihm 100 Missbrauchsfälle zur Last gelegt, auch die versuchte Vergewaltigung seiner Töchter. Am dritten Tag der Hauptverhandlung vor zwei Wochen erließ das Gericht einem Medienbericht zufolge einen Haftbefehl gegen den Mann. Begründung: Fluchtgefahr.
Seitdem saß der Mann in der Justizvollzugsanstalt in Kronach ein. Von dort war er am Montagmorgen von einer Polizeistreife ins Gericht nach Coburg gebracht worden. Die beiden Polizeibeamten seien auch den Tag über für seine Betreuung zuständig gewesen, sagte ein Polizeisprecher.
Polizei und Justiz hatten nach dem Vorfall im Januar in Regensburg reagiert und mit der Prüfung der Sicherheit in den Gerichten begonnen. Eine der Erkenntnisse von damals ist, dass die Flucht »durch die mangelnden Kenntnisse der Vorführbeamten zu baulichen und sicherheitstechnischen Gegebenheiten begünstigt« worden war. Als Folge sollte die Zusammenarbeit zwischen ortsfremden Polizeikräften und örtlichem Sicherheitspersonal intensiviert werden, heißt es in einer gemeinsamen Mitteilung von Polizei und Justiz vom 23. Januar.
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