Jérôme Boateng sieht ein wenig aus wie ein Schüler kurz vor einer sehr wichtigen Prüfung, als er am Freitag den Verhandlungssaal des Landgerichts München I betritt. Dunkler Anzug, weißes Hemd, seine Unterlagen hält er fest. Darauf steht, was er nach eigenen Angaben eigentlich gar nicht sagen wollte: sehr persönliche, teils intime Details aus seinem Familien- und Liebesleben. »Ich möchte nicht weiter nur dabei zusehen, wie mein Ruf und meine Zukunft mehr und mehr zerstört wird«, sagt er.
Er habe »noch nie zuvor einen so tiefen Einblick in mein Privatleben gegeben«, heißt es in der Erklärung, die er aus seinen Unterlagen abliest. »Ich wollte das und will das eigentlich nicht. Bei all dem geht es um höchst private und intime Dinge, die niemanden etwas angehen.«
Bereits zum wiederholten Mal werden diese Dinge nun aber in einem Gerichtssaal ausgebreitet. Der Prozess wegen des Vorwurfs der Körperverletzung gegen den früheren Weltklasse-Verteidiger und Fußball-Weltmeister von 2014 geht in die inzwischen vierte Runde. Seine Ex-Freundin - die Mutter seiner Zwillingstöchter - und die Staatsanwaltschaft werfen ihm vor, die Frau bei einem gemeinsamen Karibikurlaub im Jahr 2018 attackiert und verletzt zu haben.
Fall beschäftigt Gerichte seit Jahren
2019 wurde er dafür zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 30.000 Euro verurteilt, also insgesamt 1,8 Millionen Euro. In zweiter Instanz verhängte das Landgericht München I dann 120 Tagessätze zu je 10.000 Euro - insgesamt 1,2 Millionen Euro. Doch das Bayerische Oberste Landesgericht kassierte das Urteil und darum wird der Fall nun zum vierten Mal vor Gericht verhandelt.
Boateng hatte die Vorwürfe wiederholt vehement bestritten und angegeben, seine Ex-Partnerin lüge, um bessere Karten zu haben im Sorgerechtsstreit mit ihm. Das sagt er auch am Freitag. »Ich bin ein ganz normaler Mensch, mit Stärken und Schwächen. Und natürlich habe ich in meinem Leben und in meinen Beziehungen nicht immer alles richtig gemacht«, liest Boateng zu Beginn seiner Einlassung vor. Es habe eine Rangelei gegeben an jenem Abend, sagt er. Ein Streit um ein Kartenspiel sei eskaliert. »Nicht ich bin es, der sich nicht unter Kontrolle hat und mit Gewalt auf Streitereien in unserer Beziehung reagierte. Ich werde allenfalls laut und verteidige mich, wenn ich angegriffen werde«, sagt er.
Als seine Ex-Freundin ihm eine blutige Lippe geschlagen habe, habe er sie weggeschubst. Dabei habe sie sich verletzt. »Und das tut mir im Nachhinein natürlich leid. Dafür habe ich mich aber auch schon vor Jahren und das mehrfach« entschuldigt, betont er. »Das, was sie daraus allerdings gemacht hat, entbehrt jeglicher Grundlage und hat nahezu alles um mich, um uns herum zerstört«, sagt Boateng und spricht von einem »seit Jahren andauernden Alptraum«.
Richterin kritisiert »umfangreiche mediale Vorverurteilung des Angeklagten«
Zuvor hatte Richterin Susanne Hemmerich die Verhandlung mit einem bemerkenswerten Statement eröffnet. »Ich mache diesen Beruf inzwischen seit 40 Jahren«, sagte sie. Und noch nie habe sie »eine so umfangreiche mediale Vorverurteilung des Angeklagten« erlebt. Seit sechs Jahren laufe das Verfahren - das liege zum Teil an Corona, zum Teil aber auch an Versäumnissen der Justiz. Und seit sechs Jahren müssten die beiden inzwischen 13-jährigen Töchter von Boateng und dessen Ex-Freundin, die ihm Gewalt vorwirft, »in regelmäßigen Abständen immer wieder in der Zeitung lesen, wie ihre Eltern sich vor Gericht bekriegen«.
Sie regt ein Rechtsgespräch an. »Ich glaube, ich hätte einen Vorschlag, mit dem alle Parteien leben können.« Doch der wird nicht angenommen. Zu weit entfernt sind die Parteien voneinander.
Dass sie in ihren 40 Jahren im Dienst so etwas noch nicht erlebt habe, sagt Hemmerich öfter am ersten von sechs angesetzten Prozesstagen - auch als die Staatsanwältin nach dem Ende der Verhandlung versucht, sich über das Mikrofon an die zahlreichen Medienvertreter im Saal zu wenden. Denn der Streit zwischen Boateng und seiner früheren Lebensgefährtin wird nur zu einem kleinen Bruchteil im Gericht und zu einem viel größeren in den (sozialen) Medien ausgetragen.
Boateng spricht erstmals über Kasia Lenhardt
Zum ersten Mal seit dem Tod seiner Ex-Freundin Kasia Lenhardt spricht Boateng darum in seinem Statement auch über sie. »Aus Respekt vor Kasia, und aus Respekt vor ihrem Sohn und ihrer Familie habe ich mich seit ihrem Tod nicht öffentlich geäußert«, sagt er. »Was ich aber nicht mehr unwidersprochen akzeptiere, sind die ganzen Lügen, Halbwahrheiten und falschen Verdächtigungen, die aus all dem und aus dem tragischen Tod von Kasia Lenhardt gestrickt wurden. Deshalb und insbesondere auch wegen der jüngeren Berichterstattungen im Vorfeld zu diesem Prozess, sah ich mich jetzt doch gezwungen, mich zu äußern.« Auch Vorwürfe, er sei Lenhardt gegenüber handgreiflich geworden, weist er zurück. Er betont: »Ich misshandle keine Frauen und ich setze auch meine Partner nicht unter Druck. Ich stelle auch niemandem nach.«
»Ich hätte gerne noch ein paar Jahre Fußball auf höchstem Niveau gespielt«, sagt Boateng, der langjährige Verteidiger des FC Bayern München, der gerade vom italienischen Club US Salernitana zum Linzer ASK in Österreich wechselte. Das sei aber wegen der Vorwürfe gegen ihn nicht möglich gewesen. »Zudem habe ich alle meine Werbeverträge verloren.« Mit einem »Frauenschläger«, als der er dargestellt worden sei, wollten Geschäftspartner nichts zu tun haben.
Die Anwältin seiner Ex-Freundin will das alles so nicht stehen lassen und gibt nach Boatengs rund halbstündigem Vortrag eine Erklärung ab. Es sei das für häusliche Gewalt typische, immer gleiche Narrativ, sagt sie: Der Mann, der seine Frau schlage, behaupte, sie lüge aus Rach- oder Geldsucht oder weil sie das Sorgerecht für die Kinder wolle. Sie erinnerte daran, dass in den ersten beiden Prozessen eine Freundin von Boatengs Ex-Partnerin deren Version überwiegend bestätigt habe.
Diese Frau ist an einem der kommenden Prozesstage als Zeugin geladen, ebenso wie ein Kumpel von Boateng. Beide waren an jenem Abend in der Karibik dabei. Sie werden auch in diesem Prozess wieder aussagen, damit der Fall Stück für Stück aufgearbeitet werden kann - schon wieder.
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