REUTLINGEN. Es sind zwei Sätze, die in vielen Fußgängerzonen zwischen Kiel und Konstanz an diesem Wahlwochenende zu hören sind: Weißt du schon, wen du wählen willst, lautet einer. Der andere: Was glaubst du, welche Parteien kommen rein? Gemeint ist, ob es der FDP, den Linken oder dem BSW gelingt, die Fünf-Prozent-Hürde zu überspringen.
Deutschland bietet ein widersprüchliches Bild. Einerseits steigt das Interesse an Politik. Die Menschen spüren, dass man in Krisenzeiten seine Stimme erheben muss und zur Wahlurne gehen sollte. Die Meinungsforscher rechnen mit einer hohen Wahlbeteiligung. Gleichzeitig wissen aber 22 Prozent der Wähler zwei Tage vor dem Urnengang immer noch nicht, wie sie am Sonntag abstimmen sollen. Die Verunsicherung hat mehrere Gründe. Es ist die nachlassende Bindung zu den Parteien. Immer mehr Menschen machen ihr Kreuz mal bei dieser Partei, mal bei einer anderen. Je nach politischer Lage und Präferenz. Zudem ändern sich die bestimmenden Themen. Vor drei Jahren war es der Klimaschutz, nun sind es Wirtschaft und Sicherheit, die an oberster Stelle stehen.
Doch noch etwas kommt hinzu. Es ist immer schwerer abzuschätzen, welche Parteien in den Bundestag einziehen und später zur Regierungsbildung zur Verfügung stehen. Daher müssen die Bürger genau überlegen, ob sie mit ihrer Stimme die Wahrscheinlichkeit für ihr Wunschbündnis erhöhen oder ob sie nicht sogar das Gegenteil bewirken. Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob ein Zweier-Bündnis aus CDU und SPD regiert oder ein Dreier-Koalition aus CDU, SPD und Grünen. Daher kann man die Zurückhaltung der Bürger bei der Wahlentscheidung auch als ein Zeichen von Verantwortungsbewusstsein und Reife verstehen. Die Gesellschaft ist bunter geworden. Diese Aufsplitterung macht es den Bürgern schwerer, sich politisch festzulegen.