BERLIN. In Indien ist Olaf Scholz Herr der Lage. Der Kanzler fliegt einen Airbus, keinen richtigen, aber der Simulator im neuen Airbus India Training Center verzeiht keine Fehler und kommt dem Flugbetrieb sehr nahe. Scholz habe das gar nicht schlecht gemacht, sagt später einer, der dabei war. Die Maschine habe ordentlich gewackelt, sei ein wenig abgesackt, einen Absturz habe Scholz aber verhindert.
Dem Deutschen ist die Begeisterung anzumerken. »Wenn Sie jemals die Gelegenheit haben, in einem Flugsimulator zu sitzen, nehmen Sie sie wahr«, ruft er dem Publikum zu. Der SPD-Politiker hat sogar Muße, ein wenig in Erinnerungen zu schwelgen und an die Zeiten zu denken, »als in den 1980er-Jahren der erste Flugsimulator auf dem C64 herauskam«. Etwa eine dreiviertel Stunde dauert die Simulation der heilen Welt, dann muss Scholz in die Realität zurück.
Trump könnte Koalition retten
Rund 9.000 Flugkilometer entfernt stürzt gerade seine Regierung ab. FDP-Chef Christian Lindner schlägt eine Kapriole nach der anderen, ein klarer Kurs seines Finanzministers ist für Scholz nicht mehr erkennbar. Die Grünen kann er einigermaßen einschätzen. Außenministerin Annalena Baerbock fliegt mit ihm von Neu-Delhi über Goa nach Berlin zurück, an Bord geben die beiden ein hübsches Bild ab, sie kennen sich schon lange und vertrauen sich sichtlich. Lindner kennt er selbstverständlich auch, aber mit dem Vertrauen scheint das so eine Sache zu sein. Einschätzen kann er den Jäger und Porsche-Fahrer schon lange nicht mehr.
Bei SPD und Grünen weiß gerade niemand, ob die FDP in der Ampel bleibt oder die Koalition verlässt. In ihrer Not fragen Spitzenleute beider Parteien bei den Journalisten nach, ob die etwas ahnen. "So ein Gespräch fängt dann mit dem Satz an: ›Wir hören, sie wollen raus.‹ Es folgt eine bedeutungsschwangere Pause, nach der die Frage im Raum hängt: ›Und was hören Sie, die Medien?‹ Die Journalistinnen und Journalisten haben darauf keine Antwort. Im politischen Berlin kann gerade niemand mit Sicherheit sagen, ob und wie lange die Regierung noch hält.
Die einen halten es mit Regierungssprecher Steffen Hebestreit. Ob die US-Wahl mit einem möglichen Wahlsieger Donald Trump dazu führe, dass die brüchige Koalition zusammengeschweißt werde, wird der am Freitag bei der Regierungspressekonferenz gefragt. Die Koalition halte, antwortet der langjährige Vertraute des Kanzlers, seit drei Jahren trotz mannigfaltiger Krisen zusammen. Es gibt das andere Lager, das weniger optimistisch ist. Die Pessimisten erwarten einen »Herbst der Entscheidungen« mit einer Zuspitzung Mitte dieses Monats. Scholz hat die Fortsetzung seines Industriegipfels auf den 15. November gelegt. Sowohl Finanzminister Lindner als auch Wirtschaftsminister Robert Habeck sind nicht eingeladen.
Sollte der Kanzler bei dem Treffen Verabredungen mit der Industrie treffen und vor allem Lindner daran Kritik äußern, dann könnte das den Bruch bedeuten. Für Scholz ist das Fass randvoll, ein letzter Tropfen liberaler Kritik noch, und er könnte das finale Machtwort aussprechen: Die Kündigung für seinen Finanzminister. Würde er den aus dem Kabinett entlassen, hätte das den Rückzug der gesamten FDP aus der Ampel zur Folge. Eine Minderheitsregierung aus SPD und Grünen, so die Lesart im Regierungsviertel, könnte bis zur Bundestagswahl weitermachen.
So hart ein Rauswurf klingt, für die Freien Demokraten wäre dieser Abgang aus dem ungeliebten Regierungsbündnis der bequemste Ausweg. »Seht«, könnten sie ihren enttäuschten Wählern sagen, »wir wollten ja immer etwas für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft tun, aber die rot-grünen Schuldenkönige haben es verhindert«. Weil es in der Ampelkoalition weniger als ein Jahr vor dem regulären Termin vor allem um die Chancen bei der nächsten Bundestagswahl geht, wäre Lindners Entlassung für den Kanzler ein zweischneidiges Schwert. Einerseits könnte er Entschlossenheit demonstrieren, wer der Chef ist, andererseits würde er sich als Kanzler einer Minderheitsregierung selbst amputieren. Lindner und Oppositionschef Friedrich Merz könnten ihn auflaufen lassen und bei jedem Gesetzesvorhaben blockieren.
Linder-Papier irritiert Partner
Deshalb wartet die SPD darauf, ob der FDP-Vorsitzende zuerst zuckt und von sich aus geht. Der Mann, an dem das Schicksal dieser Regierung hängt, ist eigentlich nicht aus der Reserve zu locken. Christian Lindner bleibt souverän, auch wenn der Sturm um ihn herum tobt. Er liebt es, nach einem 14-StundenTag bis tief in die Nacht über Politik zu diskutieren. Nur wer genau hinschaut, erkennt die Wirkung des Drucks, unter dem der Liberale steht. Seine Partei ist bei den drei zurückliegenden Landtagwahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg von der Landkarte verschwunden. In den bundesweiten Umfragen ist sie unter die kritische Marke von 5 Prozent gefallen.
Unentspannt und nervös wirkt der 45-Jährige jüngst in einem Hintergrund-gespräch. Bei einem Interview vor der Kamera mit dem Spiegel kabbelt er sich ein wenig mit dem Reporter über Charakterfragen. Lindner sendet widersprüchliche Signale in die Öffentlichkeit: Ruft auf der einen Seite einen »Herbst der Entscheidungen« aus, in dem er von SPD und Grünen substanzielle Beschlüsse im Sinne seiner Partei verlangt. In Berlin kursiert dazu ein neues Papier, in dem die FDP die komplette Abschaffung des Soli und Steuersenkungen fordert. Auf der anderen Seite bekennt sich Lindner zum Fortbestand der Koalition. »Ich habe keinen diesbezüglichen Vorsatz«, antwortet er in besagtem Interview auf die Frage nach einem Auszug aus der Koalition. »Aber Deutschland braucht eine Richtungsentscheidung.«
Diese könnte schon nächste Woche fallen, jedoch nicht in Berlin. Wenn Donald Trump am Dienstag die US-Präsidentenwahl gewinnt und das westliche Bündnis dadurch erschüttert wird, wird der ohnehin riskante Schritt, die Regierung platzen zu lassen, für Lindner zum unkalkulierbaren Risiko. Dann steigen die Chancen deutlich, dass missmutig weiterregiert wird. Auf die Grünen und ihren Anführer Robert Habeck kommt es in diesem Pokerspiel nicht an. Sie wollen die Regierungsarbeit fortsetzen und bereiten den Wahlkampf vor. Habecks Ziel: Teil der nächsten Koalition zu werden, egal, wer sie an-führt. (GEA)