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Wunsch nach einem Raum der Stille

WINNENDEN. Ein halbes Jahr ist es her, das »Ereignis«, wie die Bewohner der Stadt Winnenden den Amoklauf in Worte zu fassen versuchen. Am 1. März tötete der 17-jährige Tim K. 15 Menschen mit einer Pistole seines Vaters und verletzte elf, bevor er sich selbst mit einem Kopfschuss tötete. Jetzt, zu Beginn des neuen Schuljahrs, versuchen Schüler und Lehrer den Weg in die Normalität. Sie habe, sagt Rektorin Astrid Hahn, am ersten Schultag »lachende Gesichter« gesehen. Lachende Gesichter unweit entfernt vom Tatort, in den Containern abseits der Albertville-Realschule. Das Hauptgebäude, wo die Bluttat geschah, steht leer. Noch seien Schüler und Lehrer nicht so weit, in die Klassenräume zurückzukehren. In zwei Jahren vielleicht, zu Beginn des Schuljahres 2011/12, könnten sie es schaffen, sagt Hahn. Zunächst aber sollen die 50 Lehrer zum ersten Mal wieder richtigen Unterricht halten. Dabei bekommen sie Unterstützung von Schulpsychologen und von Kollegen anderer Schulen. Von einem normalen Schulalltag ist Winnenden also noch weit entfernt.

Zeitrechnung in Phasen

Die Rektorin rechnet in »Phasen«, deren erste am 11. März beginnt. »Phase 1« waren die ersten zehn Tage - jene Zeit, als die Schulpflicht ausgesetzt wurde und alle zu Hause bleiben durften, wenn sie wollten. »Phase 2« war die Unterbringung der Schulklassen in Hallen - ohne dass auch nur an Unterricht zu denken war. »Phase 3« trug bereits Ansätze eines Schulbetriebs - die Schüler wurden in den Räumen der Nachbarschulen untergebracht und dort unterrichtet. »Phase 4« begann mit dem Aufstellen von Containern, die seither als Klassenräume dienen. »Phase 5« schließlich begann am Montag: 22 neue Lehrer verstärken die bisherigen 28. Trotzdem ist die »Containerschule« ein Ausnahmezustand. Am ersten Schultag sagte Hahn den Neuankömmlingen: »Wenn wir uns alle Mühe geben, schaffen wir es.«

Für die Schulen ist die Stadt verantwortlich, an erster Stelle deren Oberbürgermeister. Er habe, sagt Bernhard Fritz, »immer noch täglich mit diesem Thema zu tun«. Um das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, gründete er den »Arbeitskreis Rückkehr Albertville-Realschule«. Dieser Arbeitskreis legte dem Gemeinderat unlängst ein Raumprogramm mit Ausbauplänen vor, das unter anderem einen »Raum der Stille« vorsieht und zusätzliche Klassenzimmer, weil die Klassen jetzt kleiner sind und mehr Lehrer unterrichten. Sie sollen die traumatisierten Schüler angemessen betreuen. Von 500 Schülern befinden sich 50 in regelmäßiger therapeutischer Behandlung. Mit Bangen denkt der OB an den ersten Jahrestag des Amoklaufs am 11. März 2010. Wie sieht eine Gedenkfeier aus, wenn Kinder ihre Freunde verloren haben? »Psychologie ist hier ganz, ganz wichtig.«

Die psychologische Nachsorge für die Schüler und deren Angehörige koordiniert Thomas Weber. Er ist selbst Psychologe und spricht bildhaft von einer »sehr, sehr klaffenden Wunde« bei allen Beteiligten. Sechs Monate nach dem Amoklauf sei Winnenden »in der Trauer mittendrin«. Auch er bezeichnet den Amoklauf als »Ereignis« - ein »Ereignis«, das Schüler, Lehrer und Angehörige wohl nie vergessen würden. »Man muss lernen, mit dem Ereignis zu leben.«

Für den Psychologen gibt es allerdings Lichtblicke, was die Vorgehensweise angeht. Die »Behandlungsszene« habe sich verbessert. Niedergelassene Therapeuten seien umfassend fortgebildet. Ein Ergebnis des Amoklaufs im Jahr 2002 in Erfurt: Damals erschoss ein 19-Jähriger am Gutenberg-Gymnasium zwölf Lehrer, eine Sekretärin, zwei Schüler und einen Polizisten. Anschließend tötete er sich selbst. Der Amoklauf mit 17 Todesopfern war das erste Schulmassaker dieser Art in Deutschland.

Zur Tagesordnung will keiner zurückkehren, doch das Leben muss weitergehen. Einen »Verwaltungsstab nach dem 11. März« leitet der Winnender Bürgermeister Norbert Sailer. Dieser Stab setzte unter anderem durch, dass allen Jahrgängern des Amokläufers eine berufliche Perspektive geboten wird. Handelskammer, Handwerkskammer und anderen Gremien zogen mit. Auch wurden in den Ferien Stützkurse für die bisherigen Neuntklässler angeboten, vor allem in Mathematik und Englisch, weil viel Unterricht ausgefallen ist. Die Hälfte der Schüler nimmt das Angebot gerne an. Trotz allem steht das Trauma an vorderster Stelle. Rektorin Hahn: »Die Tat hat mit uns Fürchterliches gemacht.« (GEA)