BERLIN. Auf der einen Seite ein Bahnhofsvorplatz in Gotha voller AfD-Wahlplakate, auf der anderen Wahlkampfhelfer der Grünen, die aus Angst vor Übergriffen und Beleidigungen ihre Wahlplakate nur noch spätabends oder nachts aufhängen. Dies sind nur zwei der Eindrücke, die Beate Müller-Gemmeke (Grüne) letzten Woche aus Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern bei ihrer Weiterreise nach Reutlingen im Gepäck hatte.
Warum die Grüne, die nach dieser Legislaturperiode den Bundestag als Abgeordnete für den Wahlkreis Reutlingen verlässt, Wahlkampf im Osten Deutschlands macht? Es sei trotz ihres Rückzugs für sie immer klar gewesen, dass sie Wahlkampf machen würde. Und das nicht nur in Baden-Württemberg. »Ich wollte auch meine Kolleginnen und Kollegen im Osten unterstützen, die es dort nicht leicht haben«, erklärt sie.
Dass der Osten für die Grünen ein schwieriges Pflaster ist, ist lange bekannt. Auch Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne) sagte im Januar, ihre Partei stehe vor großen Herausforderungen im ostdeutschen Winterwahlkampf. Laut einer Umfrage zur Bundestagswahl von Anfang Februar liegen die Grünen in Thüringen bei mageren 4 Prozent, in Mecklenburg-Vorpommern bei gerade mal 6,6 Prozent.
»Faszinierend, wie Menschen vor Ort weiter Wahlkampf machen«
»Für mich war es unheimlich interessant zu erfahren, wie der politische Alltag der Grünen vor Ort aussieht, mit welchen Schwierigkeiten sie im Wahlkampf konfrontiert sind«, sagt Müller-Gemmeke. Ihre Stationen: Stralsund, Schwerin, Ludwigslust, Sonderhausen, Nordhausen und Gotha. In Gotha hatte ihr ein junger Wahlhelfer davon berichtet, dass er die Wahlplakate der Grünen aus Angst vor Beleidigungen oder körperlichen Angriffen nur noch spätabends oder nachts aufhänge.
In Thüringen habe sie zudem erfahren, dass die Grünen im Vergleich zu früheren Wahlkämpfen viel weniger plakatieren würden. Und dies auch nur an zentralen Orten. Mehr würde sich nicht lohnen, zu viele ihrer Plakate würden heruntergerissen oder beschädigt werden, so die Erklärung der dort politisch Aktiven. Ein Umstand, der die Politikerin nachdenklich macht: »In Baden-Württemberg werden zwar auch immer wieder Wahlplakate beschädigt, doch in dieser Form gibt es das bei uns bisher nicht.«
»Stimmung im Osten ist sehr polarisiert, viel mehr als bei uns«
Veranstaltungen vor Ort nutzte die Sozialpolitikerin, um über ihre Themen zu sprechen: soziale Gerechtigkeit, Löhne und das Bürgergeld. In Schwerin traf Müller-Gemmeke außerdem das »IQ-Netzwerk«, eine Initiative, die sich dem Thema Integration durch Qualifizierung von erwachsenen Migranten angenommen hat. In Gotha kam die Reutlinger Politikerin mit Lokalpolitikern und Engagierten der dortigen Stadtteilmission Gotha-West zusammen, die sich dort um ein freundliches und lebenswertes Miteinander der Bürger bemühen. Ihr Eindruck: »Bei aller Übermacht der AfD ist das zivilgesellschaftliche Engagement vor Ort immer noch sehr ausgeprägt.« Die Demokratie zu erhalten sei in den Gesprächen vor Ort ein wichtiges Thema gewesen. Die Menschen, mit denen sie gesprochen habe, wollten sich ihre Arbeit, ihr Engagement, nicht kaputt machen lassen. »Sie sagen, wir müssen gegenhalten, etwas tun, dürfen uns nicht ins Private zurückziehen.«
Doch auch andere Eindrücke und Berichte vom Wahlkampf im Osten bleiben bei der Grünen-Politikerin haften: ein Wahlkreisbüro der Grünen, der Name der Stadt solle lieber nicht in der Zeitung stehen, das sich in einer Ortsmitte in einem kleinen Ladengeschäft befindet. »Mit einem Schaufenster, sie sind dort also sichtbar, das ist das Gute daran.« Doch es würden permanent die Scheiben beschmiert und mit Aufklebern versehen. Die Polizei vor Ort sage, man könne nichts machen, es sei keine Sachbeschädigung, man könne es ja wieder entfernen. Müller -Gemmeke äußert ihr Unverständnis darüber.
»Eine Partei, die alles tut, um unsere Demokratie auszuhöhlen, ist brandgefährlich«
Und noch etwas anderes treibt die Abgeordnete um: In einem Ort in Mecklenburg-Vorpommern sei ihr gesagt worden, dass die Grünen dort nichts mehr in der Zeitung veröffentlichen könnten, keine Inhalte, keine Ankündigungen, da die Zeitung »in AfD-Hand« sei. »Wenn es erst einmal so weit gekommen ist, dann ist das für die betroffenen Parteien sehr schwierig«, gibt die Politikerin zu bedenken. Ihre Sorge vor der AfD ist mit dieser Wahlkampfreise nicht weniger geworden, sie sagt: »Eine Partei, die Menschen, die anders sind, verachtet, die von Remigration spricht, wenn es um den Schutz von Geflüchteten geht, und die alles tut, um unsere Demokratie auszuhöhlen, ist brandgefährlich.«
Die Stimmung im Osten sei »sehr polarisiert, viel mehr als bei uns«. Das sei überall spürbar, so ihr Resümee. Doch die Politikerin hat trotz allem auch positive Eindrücke mitgenommen: »Für mich ist es absolut faszinierend, wie die Menschen vor Ort weiterhin Wahlkampf machen, weiter Politik machen und sich engagieren. Sie lassen sich, egal was passiert, nicht von ihrer Arbeit abhalten. Das fand ich sehr beachtlich und hat allen Respekt verdient.« (GEA)