TÜBINGEN/MANNHEIM. Der erste Corona-Lockdown im Frühjahr 2020 bedeutete für viele Familien eine Zäsur: Schulen und Kitas von einem auf den anderen Tag geschlossen, kleine Kinder zuhause, Schülerinnen und Schüler im Homeschooling. Viele Mütter und Väter waren froh, wenn sie die Möglichkeit zum Homeoffice hatten, doch der bisher einigermaßen geregelte Alltag wurde nun durch zu beaufsichtigende Kleinkinder und dem Versuch, die größeren Kinder beim Distanzunterricht zu unterstützen, durcheinandergewirbelt.
Eltern schwirrte bald der Kopf, Lohnarbeit und Sorgearbeit mussten oft gleichzeitig erledigt werden. Und die Kinder? Denen fehlten ihre Freunde, manche waren mit Homeschooling überfordert, andere durch fehlende Freizeitaktivitäten bald unterfordert. Das Virus schwebte nicht nur in der Luft sondern schwirrte auch bald durch die Köpfe: Bloß niemanden mit Corona anstecken, vor allem nicht die Großeltern.
Vereinsamung drohte an allen Orten, dabei wollte man als Familie doch nur das Richtige tun. Die Folgen: Brettspiele statt Kino, Zocken am Computer statt Fußball mit der Mannschaft. Stand einem bisher die Welt offen, war an Fernreisen plötzlich nicht mehr zu denken. Achalm statt Anden, Bodensee statt Balearen war die Devise.
Mittlerweile befinden wir uns im dritten Jahr der Pandemie. Im Rückblick gab es immer wieder Zeiten zum Durchatmen, aber auch immer wieder Monate mit starken Einschränkungen. Doch war immer alles nur schlecht? Oder gab es auch eine Rückbesinnung auf den Wert der Familie, ein Zusammenrücken in der Krise? Wir fragen: Was haben knapp zweieinhalb Jahre Corona-Pandemie mit Familien gemacht?
»Der Zusammenhalt in den Familien ist besser geworden«
Professor Sascha Neumann, Erziehungswissenschaftler an der Uni Tübingen, hat sich im Rahmen einer internationalen Studie mit dem Einfluss der Corona-Pandemie auf das Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen befasst und dabei auch immer wieder den Blick auf Familien gerichtet. Er sagt: »Man kann nicht sagen, dass alles schlechter oder besser war. Aus Sicht der Kinder kommt man eher zu einem ambivalenten Ergebnis: Laut einer Mehrheit der Kinder ist der Zusammenhalt in den Familien tatsächlich besser geworden, sie haben insgesamt mehr Zeit mit der Familie verbracht und dies auch genossen.«
Ein Ergebnis der Studie war aber auch: Über die Hälfte der befragten Kinder gab an, dass ihre Eltern gestresster und besorgter waren als sonst. Doch nicht alle Familien waren von diesem Trend gleich stark betroffen. So waren besonders alleinerziehende Eltern von negativen Gefühlen betroffen, genauso wie Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status, also Familien mit wenig Geld. Auch Frauen waren in der Krise von negativen Gefühlen stärker betroffen als Männer, berichtet Neumann und sagt: »Hier hat sich bestätigt, was schon zu Anfang der Pandemie befürchtet wurde: Die Belastung vor allem unter den weiblichen Elternteilen hat in der Pandemie zugenommen, es waren vor allem die Frauen, die das Mehr an familiärer Sorgearbeit übernommen haben.«
SO GEHT’S WEITER
Kinder und Jugendliche bewegen sich immer weniger und werden dicker. Darum geht es in der nächsten Folge am Dienstag, 13. September. Alle bisher in der GEA-Familienserie erschienenen Beiträge sind in einem Online-Dossier nachzulesen. www.gea.de/familienzeit
Ein deutliches Ungleichgewicht bei der Arbeitsverteilung sieht auch Professor Katja Möhring, Soziologin von der Uni Mannheim, doch sie kommt in diesem Zusammenhang auch zu positiven Ergebnissen: »Es ist nicht so, dass die Väter in Sachen Sorgearbeit nichts gemacht hätten, es ist sogar so, dass sie den Wert, den sie dabei bisher in Deutschland hatten, in der Pandemie gesteigert haben.«
Laut Möhring ergaben Studien, dass sich vor allem Menschen in Kurzarbeit Sorgen um ihre Jobsicherheit machten, finanzielle Sorgen wirkten sich laut Neumann auf die Stimmung in vielen Familien aus: »Viele Kinder äußerten in unseren Befragungen Angst vor der Zukunft, Angst davor, dass ihre Familie in Zukunft vielleicht nicht mehr genug Geld haben könnte.« Manche Familien hätten in der Pandemie gar ihre Zuversicht, ihre Orientierung verloren. »Das waren Alltagsveränderungen, die auch die Kinder gespürt haben.«
»Viele Kinder äußerten in unseren Befragungen Angst vor der Zukunft«
Corona hatte also tatsächlich einen großen Einfluss auf das Familienleben. Viele Familien sind in der Krise enger zusammengerückt, hatten mehr Zeit füreinander. Doch gestresste und besorgte Eltern, enge Wohnverhältnisse und finanzielle Sorgen führten auch immer wieder zu einer Zunahme an Konflikten. Laut Neumann wiesen Kinder, die sich auch während der Pandemie wohl und sicher gefühlt haben, dagegen ein höheres Maß an Wohlbefinden auf. Der Erziehungswissenschaftler folgert daraus, dass eine funktionierende Familie ein erheblicher Schutzfaktor für Kinder war, um die negativen Folgen der Pandemie zu bewältigen. »Familie ist immer wichtig«, meint Neumann, in der Pandemie sei dies aber noch einmal in einem ganz besonderen Maße der Fall gewesen.
Inzwischen zieht es viele Familien wieder in die Ferne, Urlaubs-Flieger sind ausgebucht, der Bodensee-Urlaub abgesagt. Kinos sind voll, Familienfeiern, Feste und Geburtstage werden groß gefeiert und nachgeholt. Die Rückkehr in die Normalität haben die meisten Familien geschafft, auch wenn mache Kinder-Freundschaften, so hat es der Tübinger Wissenschaftler jedenfall bei seinen eigenen Kindern beobachtet, im Laufe der Pandemie auf der Strecke geblieben sind. Vielleicht haben die Kinder am meisten vom Zusammenrücken in vielen Familien profitiert – doch unter der sozialen Isolation haben Heranwachsende ganz besonders gelitten. (GEA)