REUTLINGEN. Ein neues Expertengutachten hat die Debatte über die Strafbarkeit von Abtreibungen neu entfacht. Im GEA-Interview spricht Thorsten Frei, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der Union, über dieses heikle Thema. Er macht klar, wo die CDU gesprächsbereit ist und wo es mit der Unionsfraktion im Bundestag keinen Kompromiss geben kann.
GEA: Herr Frei, unabhängige Experten sprechen sich für eine Liberalisierung der Abtreibungsregeln aus. Sie fordern, Schwangerschaftsabbrüche in den ersten zwölf Wochen generell straffrei zu stellen. Warum sperren Sie sich gegen diesen Vorschlag?
Thorsten Frei: Ich sehe keine Handlungsnotwendigkeit. In den 1990er-Jahren hat man einen gesellschaftlichen Großkonflikt um Schwangerschaftsabbrüche befrieden können. Das hat sehr gut funktioniert. Ich verstehe nicht, warum die Ampelkoalition in einer schwierigen politischen Lage mit ganz vielen Konflikten eine weitere Auseinandersetzung initiiert. Die Koalition aus SPD, Grünen und FDP will etwas zum Problem machen, was bis dato gar keines war.

Die Ampel-Regierung hat eher zurückhaltend auf die Vorschläge der Experten reagiert und davon gesprochen, dass es bei diesem sensiblen Thema einen parlamentarischen Konsens brauche. Stehen Sie für einen Konsens zur Verfügung?
Frei: Das kann ich mir nicht vorstellen. Diese Kommission ist auf Grundlage des Koalitionsvertrags eingerichtet worden. Die Expertinnen sind ausschließlich von den Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung bestellt worden. Das macht deutlich, dass es nicht um einen breiten Konsens geht. Deswegen kann man nicht davon sprechen, dass die Aussagen dieses Gremiums einen breiten gesellschaftlichen Konsens abbilden. Wenn man sich die Vorschläge auf den rund 600 Seiten des Gutachtens anschaut, bewegen sich diese sehr nahe an der Fristenlösung, wonach der Schwangerschaftsabbruch innerhalb einer bestimmten Frist straffrei möglich sein soll. Das ist etwas, gegen das wir uns immer ausgesprochen haben. Deswegen kann ich mir nicht vorstellen, dass wir auf dieser Basis zueinander finden können.
Auf was kommt es denn der Union bei diesem schwierigen Thema an?
Frei: Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Urteil aus dem Jahr 1993 entschieden, dass auch dem ungeborenen Leben Menschenwürde zukommt. Der Embryo entwickelt sich nicht zum Menschen, sondern als Mensch. Zudem sagen die Verfassungsrichter, dass mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle, dieser Prozess beginnt. Wenn man das annimmt, kann am Ende keine Fristenlösung herauskommen.
Werden Sie dennoch das Gesprächsangebot der Koalition annehmen?
Frei: Dieses Gutachten bezieht sich auf unterschiedliche Aspekte. Da geht es auch um Leihmutterschaft oder Eizellenspende. Das sind Dinge, die wir uns sehr genau ansehen müssen, zumal es in Deutschland jedes Jahr zehntausende dieser Fälle gibt, in denen Paare nach Wegen suchen, ihren Kinderwunsch zu erfüllen. Auch das kann eine Art Notlage sein, auf die die Politik und Gesellschaft eine seriöse Antwort finden muss.
ZUR PERSON
Thorsten Frei (50) ist Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU-CSU-Fraktion im Bundestag. 2012 gewann er mit 68,6 Prozent das Direktmandat für die CDU im Wahlkreis Schwarzwald-Baar und löste Siegfried Kauder ab. Von 2004 bis 2013 war Frei Oberbürgermeister in Donaueschingen. Bei der Bundestagswahl 2017 erzielte er das zweitbeste Ergebnis in Baden-Württemberg. Er stammt aus Bad Säckingen und hat in Freiburg Jura studiert und abgeschlossen. Frei ist verheiratet und hat drei Kinder. (cvr)
Im Gegensatz dazu kann ich mir jedoch nicht vorstellen, dass der § 218 mit der Beratungspflicht zur Disposition gestellt wird. Denn sowohl an den rechtlichen als auch an den tatsächlichen Gegebenheiten hat sich nichts verändert.
Was ist dann das politische Motiv der Regierungskoalition? Warum wurde die Expertenkommission ins Leben gerufen?
Frei: Schon bei der Debatte um § 219, also das Werbeverbot für den Abbruch der Schwangerschaft, haben insbesondere SPD und Grüne signalisiert, dass sie auch die Regelung des Paragrafen 218 abschaffen wollen. Schon damals ist deutlich geworden, dass sie den gesellschaftlichen Kompromiss aus den 1990er-Jahren aufkündigen wollen. Sie wollen keinen neuen Konsens, sondern ihre eigenen Vorstellungen durchsetzen. SPD und Grünen geht es um Ideologie.
Grüne und SPD können aber einwenden, dass es in der Bevölkerung eine Mehrheit gibt für die Liberalisierung der Abtreibung innerhalb der ersten zwölf Wochen.
Frei: Natürlich muss man Stimmungslagen in der Bevölkerung ernst nehmen. Doch für uns ist klar, dass wir nicht über einen Zellhaufen reden, sondern über einen Embryo, dem Menschenwürde zukommt. Es geht um eine ethische Frage: Wann beginnt menschliches Leben? Deswegen ist für uns klar, es bleibt eine Dilemma-Situation: Wir haben auf der einen Seite das Selbstbestimmungsrecht der Frau, das zu respektieren ist und dem auch ein grundgesetzlicher Gehalt zukommt. Auf der anderen Seite haben wir die Menschenwürde des ungeborenen Lebens, das ebenfalls geschützt werden muss. Deshalb hat das Verfassungsgericht entschieden, dass ein Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich rechtswidrig ist und zusätzlich eine Beratungspflicht eingeführt. Wer einen Beratungsschein hat, kann einen Abbruch vornehmen lassen. In den letzten Jahren lag die Zahl der Abbrüche so bei 100.000 pro Jahr. Davon ergingen etwa vier Prozent auf der Grundlage einer medizinischen Indikation, das bedeutet: Es handelt sich um eine Situation, in der etwa das Leben der Schwangeren in Gefahr war oder die Schwangerschaft infolge einer Vergewaltigung zustande kam. Umgekehrt bedeutet das aber auch: 96 Prozent der Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland sind auf der Grundlage einer Beratung erfolgt. Das sagt alles.
Bisher sind Abtreibungen grundsätzlich rechtswidrig, aber straffrei. Wie steht die Union zu dem Vorschlag, diese Illegalität aufzuheben? Dann könnte die Krankenkassen die Kosten für einen Abbruch übernehmen.
Frei: Das sehe ich nicht als Ziel an. Jede Frau kann auf der Grundlage der jetzigen Rechtslage eine Abtreibung vornehmen. Straffällig geworden sind nur ganz wenige Personen. Wir reden hier von etwa fünf oder sechs Fällen im Jahr. Und das waren alles Männer, die Frauen dazu gedrängt haben, einen Abbruch vorzunehmen. Das zeigt: Wir haben es nicht mit einem realen Problem zu tun. Das Verfassungsgericht hat eine praktikable Lösung ersonnen, die zwar nicht allen gefällt, mit der man gut leben kann. Wer Schwangerschaftsabbrüche generell ablehnt, dem kann ich sagen, dass die bisherige Regelung das Ziel, das ungeborene Leben zu schützen, gut erfüllt. Natürlich sind 100.000 Schwangerschaftsabbrüche pro Jahr eine große Zahl. Aber wenn man sich Länder mit laxeren Gesetzen wie Spanien oder Frankreich anschaut – gibt es dort etwa doppelt so viele Abbrüche wir bei uns. Insofern ist die bestehende Regelung gut. Ich würde sie nicht ändern.
Dennoch: Warum müssen Frauen, die sich an die gesetzliche Regelung halten, die Kosten des Abbruchs selber tragen?
Frei: Es geht um Verantwortung. Nur weil Mann und Frau nicht verhüten können, soll die Solidargemeinschaft der Krankenkassenversicherten einspringen? Dafür sehe ich keinen Grund. Und wenn medizinische Gründe vorliegen, übernimmt die Kasse die Kosten.
Gerade im Süden haben viele Frauen ein Problem, die einen Abbruch planen, wohnortnah eine Arztpraxis zu finden. Gesundheitsminister Lauterbach will hier für Verbesserungen sorgen. Unterstützen Sie das?
Frei: Es ist eine Tatsache, dass es nicht in allen Regionen die gleiche Dichte an Praxen gibt, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Aber das hat nichts mit der Rechtslage zu tun. Die ist bundsweit einheitlich. Insofern liegt es nicht am Gesetz, wie Herr Lauterbach insinuiert. Und wenn man fragt, was die Gründe sind, lohnt ein Blick in die Praxis: Kein Arzt wird gezwungen, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen. Und selbst in Kliniken, die Abbrüche anbieten, lehnen das 70 Prozent der Ärztinnen und Ärzte ab, die dort arbeiten. Man muss akzeptieren, dass viele Ärzte das nicht wollen.
»Man muss akzeptieren, dass viele Ärzte das nicht wollen«
Der Gesundheitsminister stellt auch das Verbot, Eizellen zu spenden, infrage. In vielen EU-Ländern ist das erlaubt und viele Frauen fahren dann ins Ausland. Ist das Verbot noch zeit-gemäß?
Frei: Die Bundestagsfraktion wird sich das genau anschauen und überlegen, ob es auf der Grundlage von neuerer Einschätzungen zu einer Neubewertung kommen muss. Wir möchten uns aber nicht unter Zeitdruck setzen. Es geht um eine ethische Frage. Deshalb werden wir die Abwägung mit großer Sorgfalt vollziehen. (GEA)