BERLIN. Zwei tödliche Anschläge in Aschaffenburg und München, eine veritable Wirtschaftskrise und eine erregte Debatte über den Umgang mit der AfD: Deutschland hat turbulente Wochen hinter sich. Auf die Umfragen vor der Bundestagswahl hat dies bislang allerdings relativ wenig Einfluss. Abgesehen von der Linken, die mit einem prognostizierten Ergebnis von sechs bis sieben Prozent kräftig zugelegt hat, liegen alle anderen Parteien seit Wochen wie einbetoniert bei den immer gleichen Werten: die Union um die 30 Prozent, die SPD etwa halb so stark, die Grünen bei zwölf bis 14 Prozent, die FDP und Sahra Wagenknechts BSW bei jeweils vier bis fünf Prozent, die AfD bei 20 Prozent. Welche Koalition sich am Sonntagabend herauskristallisiert, ist damit noch völlig offen. Möglich ist vieles – und unmöglich auch. Je nach Ergebnis können im neuen Bundestag nur vier Fraktionen sitzen oder deren sieben. Ein Überblick:
- Die Große Koalition
Das Wunschbündnis von CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz. Wenn Union und SPD nicht noch aus der Schlusskurve des Wahlkampfes getragen werden, könnte es am Ende knapp reichen. Die Chancen für eine Große Koalition steigen, wenn FDP und/oder BSW den Sprung in den Bundestag verpassen. Dann könnten schon 43 oder 44 Prozent der Stimmen für eine Mehrheit im Parlament ausreichen. Nicht ausgeschlossen wird in der SPD ein Szenario wie 2017, als die Partei sich eigentlich in der Opposition erneuern wollte, von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier aber noch einmal sanft in eine Koalition mit Angela Merkel gezwungen wurde. Ein solcher »Impuls von außen«, schätzt ein Spitzengenosse, könnte auch diesmal wieder nötig sein.
- Die Kenia-Koalition
Sie kommt ins Spiel, wenn es für Union und SPD nicht reicht und die FDP an der Fünf-Prozent-Hürde scheitert. Obwohl CSU-Chef Markus Söder eine Regierung mit den Grünen strikt ausgeschlossen hat, bliebe Merz dann vermutlich gar keine andere Wahl, als auch mit den Grünen zu verhandeln. Eine Minderheitsregierung unter seiner Führung hat er bereits ausgeschlossen. In der Union verursacht die Aussicht auf einen schwarz-rot-grünen Dreier allerdings bei vielen Abgeordneten Schnappatmung. CDU und CSU müssten in Kenia mit zwei linken Parteien koalieren – Merz pur gäbe es dann sicher nicht mehr. In Sachsen-Anhalt allerdings regiert eine Kenia-Koalition unter CDU-Führung vergleichsweise geräuschlos.
- Die Deutschland-Koalition
Das Wunschbündnis von FDP-Spitzenkandidat Christian Lindner. Da eine schwarz-gelbe Bundesregierung angesichts der aktuellen Umfragewerte faktisch ausgeschlossen ist, ist die Deutschland-Koalition für die Liberalen die einzige realistische Chance auf eine Regierungsbeteiligung. Die letzten Umfragen sehen die FDP wieder eher bei fünf als bei vier Prozent, was eine schwarz-rot-gelbe Koalition wieder wahrscheinlicher macht. Lindner möchte in diesem Fall wieder Finanzminister werden, das hat er in einem Interview mit unserer Redaktion bereits angekündigt. Vorteil für Merz: In dieser Konstellation wären die bürgerlich-liberalen Kräfte stärker als die linken. Das erleichtert die von ihm geplanten Reformen.
DIE WAHL IN ZAHLEN
Fünf Bewerbungen ums Kanzleramt, 41 anerkannte Parteien, Hunderttausende Freiwillige. Zahlen und Fakten rund um die anstehende Bundestagswahl: . 59,2 Millionen Deutsche werden nach Schätzung des Statistischen Bundesamtes (Destatis) im Bundesgebiet wahlberechtigt sein. Bei der Wahl 2021 durften 61,2 Millionen Personen wählen – die Differenz beruhe vor allem auf der demografischen Entwicklung, so Destatis. Hinzu kommen nach Schätzung des Auswärtigen Amtes mehr als drei Millionen Deutsche, die im Ausland leben. . Etwa 2,3 Millionen junge Deutsche sind seit der letzten Bundestagswahl volljährig geworden und dürfen nun erstmals den Bundestag wählen. Fast jeder vierte Wahlberechtigte (23,2 Prozent) ist über 70 – mehr als 40 Prozent haben den sechzigsten Geburtstag hinter sich. Menschen unter 30 Jahren machen hingegen nur 13,3 Prozent der Wahlberechtigten aus. . 650.000 Ehrenamtliche werden gebraucht, um einen korrekten Wahlablauf sicherzustellen. Sie sorgen in Wahllokalen und bei der Auszählung der Briefstimmen dafür, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Die Berufung erfolgt über die Gemeinden – meist wird auf Freiwillige gesetzt. . Insgesamt 4.506 Menschen bewerben sich um einen Sitz im neuen Bundestag, ein knappes Drittel von ihnen sind Frauen. Die Kandidatenzahl ist damit deutlich gesunken: 2021 gab es noch 6.211 Kandidaturen. 80 Prozent der derzeit 733 Bundestagsabgeordneten treten erneut an. . 41 Parteien hat der Bundeswahlausschuss zur Wahl am 23. Februar zugelassen. 29 treten tatsächlich an, teils aber nicht bundesweit. Parteien, die im Bundes- oder Landtag bereits mit fünf Abgeordneten vertreten sind, mussten sich nicht erneut bewerben. Vor allem kleinere Parteien mussten noch eine erforderliche Anzahl von Unterstützerunterschriften nachweisen. . 28 Schüler bewerben sich um ein Bundestagsmandat, so eine Auswertung der Jobbörse Indeed, und 315 Kandidaten mit Doktortitel. Eine Analyse der gängigsten Kandidaten-Vornamen zeigt demnach: Michael, Andreas und Thomas sind am häufigsten vertreten (228). Vier Kandidaten haben den Vornamen Ali. Bei den Frauen sind Anna, Anja, Julia und Susanne am häufigsten vertreten. (dpa)
- Schwarz-Grün
Das Wunschbündnis von Robert Habeck, dem Kanzlerkandidaten der Grünen – und die Koalition, die CSU-Chef Markus Söder auf keinen Fall will und die er bereits mehrfach ausschloss. Im Moment spricht auch rechnerisch wenig für ein solches Bündnis, da die SPD vor den Grünen liegt und der naheliegendere Koalitionspartner für die Union wäre. Merz schließt Schwarz-Grün zwar nicht ganz aus und sagt: »Herr Söder schreibt mir gar nichts vor.« Der CDU-Chef weiß aber auch, dass die Begeisterung für einen Pakt mit den Grünen in den C-Parteien auf Werte in der Nähe des Gefrierpunktes gesunken ist. Dass in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein zwei Ministerpräsidenten der CDU mit den Grünen regieren, ist für ihn keine Blaupause für die Bundespolitik. Und Habeck als Wirtschaftsminister schließt er inzwischen auch aus.

- Die Jamaika-Koalition
Angela Merkel hätte sie 2017 gerne gehabt, Christian Lindner aber entschied sich, lieber gar nicht zu regieren als schlecht zu regieren. Diesmal spricht aus Sicht der Union noch weniger für ein Bündnis aus Konservativen, Liberalen und Grünen: Das Verhältnis zu den Grünen ist mit den Jahren frostiger geworden und nicht besser. Außerdem hat die FDP eine Koalition mit den Grünen per Parteitagsbeschluss strikt ausgeschlossen. Das bindet auch Lindner. Jamaika wäre vermutlich nur dann eine Option, wenn die SPD sich allen Gesprächen verweigert und ihr Heil in der Opposition sucht. Aber auch dann müsste die FDP erst einmal die Fünf-Prozent-Hürde nehmen. (GEA)