Einmarsch in die Ukraine
Wladimir Putin schockt die Welt. Russlands Präsident befiehlt am 24. Februar 2022 einen Angriff auf die Ukraine – aus der Luft, am Boden und zur See. Er nennt es eine Spezialoperation, um das Nachbarland zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hingegen nennt es einen Krieg, der das Ziel hat, sein Land zu zerstören. Deutschland, die USA und andere Länder verurteilen den Angriff aufs Schärfste, die EU beschließt ein Sanktionspaket. Die Nato schließt eine militärische Unterstützung der Ukraine allerdings aus.
Reutlingen richtet Sonderstab ein
Nach der russischen Invasion richtet der Reutlinger Oberbürgermeister Thomas Keck am 25. Februar einen Krisenstab ein. Alle Verwaltungsbereiche, die mit der Ausnahmesituation zu tun haben, sind einbezogen. Zu den Aufgaben, die auf die Schnelle organisiert werden müssen, gehört die Unterbringung der Geflüchteten, die Einrichtung von Anlaufstellen sowie die Koordination von Hilfsangeboten. »Die Umsetzung aller durch diesen abscheulichen Krieg erforderlich gewordenen Maßnahmen dürfte nach der Corona-Pandemie die größte gesamtstädtische Herausforderung werden«, ahnt OB Keck.
Die ersten Solidaritäts-Demos
Einen Tag nach Kriegsbeginn rufen Bündnis 90/Die Grünen in Reutlingen spontan zu einer Solidaritätskundgebung auf. Rund 70 Teilnehmer versammeln sich auf dem Marktplatz. Redner verurteilen den Angriff aufs Schärfste, MdL Thomas Poreski spricht von einem »brutalen Angriffskrieg eines lupenreinen Diktators«. Weitere Kundgebungen folgen, wenige Tage später kommen schon über tausend Teilnehmer zu einer parteiübergreifenden Demo auf den Marktplatz. Zu den Rednern gehört auch Oberbürgermeister Thomas Keck.
Deutschland liefert nun doch Waffen
Im Januar bittet die Ukraine Deutschland um Waffen. Stattdessen schickt die Bundesregierung 5 000 Helme und sorgt damit weltweit für Spott. Am 27. Februar spricht Bundeskanzler Olaf Scholz von einer »Zeitenwende« und kündigt nun doch an, Waffen zu liefern, darunter Flugabwehrraketen, Panzerabwehrwaffen und Maschinengewehre. In die Bundeswehr sollen 100 Milliarden Euro investiert werden. In den Tagen danach startet in Deutschland eine Debatte über die Wiedereinführung der Wehrpflicht.
»Musketiere« leisten wertvolle Hilfe
Die Reutlinger Hilfsorganisation »Drei Musketiere« startet wenige Tage nach Kriegsausbruch einen Spendenaufruf. Die Resonanz ist riesig, 40 Tonnen Hilfsgüter kommen im »Innoport« zusammen. Ein Team der »Drei Musketiere« reist am 1. März an die ukrainische Grenze in Polen, baut eine Transportlogistik auf, liefert Güter für den täglichen Bedarf an die Menschen im Kriegsgebiet. Vier Mal sind die »Musketiere« 2022 vor Ort, insgesamt über sechs Monate – wertvolle Unterstützung für Menschen, deren Not immer größer wird. Sie zu organisieren, wird mit zunehmender Kriegsdauer für den kleinen Verein immer schwieriger, denn die Spendenbereitschaft sinkt.
Angriff auf Atomkraftwerk
Die Welt in Angst vor einer nuklearen Katastrophe: Nach einem Beschuss durch russische Streitkräfte bricht am 4. März Feuer an Europas größtem Kernkraftwerk in der Ukraine aus. Beide Konfliktparteien und internationale Experten versichern, dass keine Radioaktivität ausgetreten sei. Doch die Sorge vor einer unkontrollierbaren Eskalation im Kriegsgebiet wächst. Die Nato erwartet eine deutliche Verschärfung der Lage. Bundesumweltministerium und Bundesamt für Strahlenschutz befinden sich in ständigem Austausch mit den Behörden in der Ukraine überwachen sämtliche Messeinrichtungen in Deutschland.
Kommunen bereiten Notunterkünfte vor
Die Kommunen bereiten Notunterkünfte vor. In Pfullingen wird Mitte März die Schönberghalle für den Sportbetrieb geschlossen, der Landkreis bereitet die Sporthalle der Theodor-Heuss-Schule für die Aufnahme von Ukraine-Flüchtlingen vor, die Reutlinger Verwaltung Mittelstadts Turn- und Festhalle, Metzingen die Öschhalle. In Tübingen wird die Kreissporthalle zum Ankunftszentrum. In die Mittelstädter Halle ziehen erst im November Ukraineflüchtlinge ein. Reutlingen beschließt im Oktober den Bau von sechs neuen Containerunterkünften.
Erste Flüchtlinge erreichen Pfullingen
Die ersten Ukrainer kommen in der Region an. In Pfullingen, wo die Schönberghalle schon zur Notunterkunft umfunktioniert wurde, treffen am 25. März 42 Kriegsflüchtlinge – fast alles Frauen und Kinder – mit einem Bus ein. Vor vier Tagen sind sie aus ihrer Heimatstadt in der ukrainischen Provinz Charkiw geflohen, über Polen nach Deutschland gekommen. Die Strapazen sind ihnen bei der Ankunft anzusehen. Die Geflüchteten richten sich in der Bleibe auf Zeit ein. 130 Ehrenamtliche helfen. »Wenn man die Familien aus dem Bus steigen sieht, da fehlen einem die Worte«, sagt Pfullingens Bürgermeister Stefan Wörner.
Krieg in den Sozialen Medien
Während sich Russland und die Ukraine mit Waffen bekämpfen, tobt im Internet ein Krieg um die Wahrheit. Auf Twitter, Telegram, Facebook und Google verursachen beide Staaten eine Lawine von Informationen. Fake News zu identifizieren, ist bei dieser Masse schwierig. Viele Bilder und Videos haben keine Quellenangabe, sind manipuliert oder werden in einen falschen Kontext gestellt. Auch die Sprachbarriere erschwert es oftmals, Fälschungen zu erkennen. Der Konzern Meta und die Video-App Tiktok beschränken im März deshalb den Zugang zu sämtlichen Inhalten von RT und Sputnik in der EU.
Massaker von Butscha
Butcha wird zum Symbol für das Grauen des Krieges. In dem Vorort von Kiew, werden nach dem Abzug russischer Truppen Anfang April Hunderte Leichen von Zivilisten gefunden, darunter Frauen und Kinder. Einige liegen auf der Straße, mit Folterspuren und auf dem Rücken gefesselten Händen. Das weltweite Entsetzen ist groß, es fallen Wörter wie Massaker, Kriegsverbrechen und Völkermord. Russland streitet die Massaker von Butscha ab und behauptet, die Leichen seien nach dem Abzug der Truppen dort deponiert worden. Satellitenaufnahmen sollen das Gegenteil beweisen. Die USA und Großbritannien wollen Russlands Mitgliedschaft im UN-Menschenrechtsrat daraufhin aussetzen.
Benefizaktion von Stadt, WPR und GEA
Die Welle der Hilfsbereitschaft für die Ukraine ist groß. In der Spendenannahmestelle in der alten Paketpost stapeln sich Hilfsgüter, es gibt zahlreiche Aktionen. Höhepunkt ist eine von Reutlinger General-Anzeiger, Württembergische Philharmonie (WPR) und der Stadt Reutlingen organisierte Ukraine-Benefizgala in der Stadthalle. Es wird ein Abend mit klassischer Musik, von Tonne-Schauspielern vorgetragenen Texten, Videobotschaften. Die Benefizaktion am 14. April wird zu einem großen Erfolg: Der Erlös aus Ticketverkauf, Catering und Spenden in Höhe von 30 217 Euro geht an die Reutlinger Organisation »Drei Musketiere«, die Hilfsgüter über Polen in die Ukraine transportiert.
Tafelläden schlagen Alarm
Durch die Flüchtlinge aus der Ukraine geht die Zahl der Kunden rasant in die Höhe, während die Waren immer weniger werden. Supermärkte und Discounter müssen wegen der Teuerungen strenger kalkulieren, Lieferungen an die Tafelläden gehen um rund 30 Prozent zurück. In Reutlingen bilden sich schon Stunden vor der Öffnung lange Schlangen, die Kunden müssen bis zu drei Stunden warten. Die Lebensmittel werden rationiert, mit Privatspenden kommt die Tafel einigermaßen über die Runden. »Wir sind am Limit«, sagt Reutlingens Tafelleiterin Gisela Braun am 19. April und meint damit auch die Ehrenamtlichen.
Flüchtlinge erster und zweiter Klasse?
Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine zwingt Tausende Menschen zur Flucht. In Deutschland werden viele davon mit offenen Armen empfangen. Die Ehrenamtlichen vom Arbeitskreis (AK) Flüchtlinge in Reutlingen sprechen von einem »großartigen Engagement« für die Neuankömmlinge. Andererseits stellen sie bereits im Mai fest, dass die Ukraineflüchtlinge einen anderen, besseren Status haben. Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer fasst es in einer TV-Sendung zu einem späteren Zeitpunkt so zusammen: »Ich kann nicht verstehen, warum ein ukrainischer Staatsbürger andere Leistungen erhalten muss als ein syrischer Kriegsflüchtling.«
Tankrabatt und 9-Euro-Ticket
Weil Deutschland den Ölimport aus Russland einschränkt, schnellen die Spritpreise in die Höhe. Zeitweise liegen sie bei deutlich mehr als zwei Euro pro Liter. Um Verbraucher zu entlasten, beschließt die Bundesregierung ein Entlastungspaket. Die prominentesten Punkte sind der Tankrabatt und das 9-Euro-Ticket für den gesamten Nah- und Regionalverkehr. Beide gelten zwischen 1. Juni und 31. August 2022. Durch den Tankrabatt sparen Autofahrer etwa 35,2 Cent pro Liter Super und 16,7 Cent pro Liter Diesel. Das 9-Euro-Ticket wird stark nachgefragt und erhält mit dem 49-Euro-Ticket einen Nachfolger.
Gaspipeline wird stillgelegt
Am 11. Juli wird die Pipeline Nordstream 1, angeblich wegen einer defekten Turbine, stillgelegt. Nach zehn Tagen läuft sie wieder, die Gaslieferung ist jedoch deutlich reduziert. Ende August ist die Leitung wieder außer Betrieb, Ursache soll ein technisches Problem sein. Am 26. September wird Nordstream 1 durch Explosionen zerstört. Experten gehen von Sabotage aus. Wer dafür verantwortlich ist, ist noch unklar. Russland wird als Täter verdächtigt. Später behauptet der renommierte US-Investigativjournalist Seymour Hersh, US-Marinetaucher seien für die Explosionen der Gaspipelines in der Ostsee verantwortlich.
Bibbern im Hallenbad
Die explodierenden Gaspreise zwingen die Betreiber der städtischen Bäder zum Handeln. Sie heizen das Wasser weniger auf als üblich, was sich in den Freibädern wegen des heißen Sommers nicht wirklich bemerkbar macht. In den Hallenbädern ist dann ab August Bibbern angesagt: Fast überall in der Region werden Wasser- und Raumtemperaturen um ein bis zwei Grad gesenkt. Beim TSV Betzingen kommen Kinder in Neoprenanzügen zu den Kursen. Immerhin dürfen sie noch schwimmen. Andere Gemeinden wie Nehren und Gomadingen greifen zu drastischeren Maßnahmen: Sie machen Hallenbäder und Lehrschwimmbecken dicht.
Putin mobilisiert 300 000 Reservisten
Der Krieg dauert deutlich länger als gedacht. Russlands Präsident Wladimir Putin setzt alles auf eine Karte. Am 21. September ruft er eine Teilmobilmachung aus. Der Erlass zwingt Russen zur Kriegsteilnahme, die bislang – zumindest theoretisch – freiwillig war. Eingezogen werden 300 000 Reservisten. Sie sollen die Personalprobleme an der Front lösen und die Wende im Krieg bringen. Und sie sollen die angekündigten Scheinreferenden in besetzten ukrainischen Gebieten über einen Beitritt zu Russland unterstützen. Bundeskanzler Olaf Scholz bezeichnet die Mobilisierung als »Akt der Verzweiflung«. CDU-Politiker Roderich Kiesewetter sagt im GEA-Interview: »Wir sollten uns nicht einschüchtern lassen.«
OB Keck kritisiert Bund und Land
Im Herbst erreicht die Zahl der Flüchtlinge in Baden-Württemberg die Spitzenwerte von 2015. Die Kommunen ächzen unter der finanziellen Last, die die Unterbringung verursacht. Reutlingens Oberbürgermeister Thomas Keck übt harsche Kritik an Landes- und Bundesregierung: Er habe sich noch nie so allein gelassen gefühlt wie in dieser Sache, sagt er im GEA-Interview am 1. Oktober. Im November mahnt Tübingens Landrat Joachim Walter, der Zuzug von Geflüchteten müsse gebremst werden. Die Aufnahmekapazitäten seien fast erschöpft, die Akzeptanz in der Bevölkerung lasse merklich nach. Die Kommunen steckten in einer »Überforderungsfalle«, sagt Walter.
Kritik an Vortrag in Reutlingen
Gabriele Krone-Schmalz (73) hält am 14. Oktober an der Reutlinger Volkshochschule einen Vortrag zu den Hintergründen des Ukraine-Kriegs. Ein Video davon geht viral. Bei Youtube sammelt es mehr als eine Million Klicks, 18 000 Kommentare und 47 000 Likes. Außerdem sorgt es bundesweit für Schlagzeilen. Von einigen Wissenschaftlern hagelt es Kritik, Unbekannte schicken Hassmails an die VHS und ihren Leiter Ulrich Bausch (63). Dieser weist die Vorwürfe, die bekannte TV-Journalistin nehme Putin in Schutz, zurück und prangert stattdessen die Empörungskultur in der Gesellschaft an.
Angst vor dem Blackout
Drohen infolge des russischen Erdgaslieferstopps und dadurch erhöhter Nachfrage nach Strom Blackouts? Eine Frage, welche die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in der Region umtreibt. Sie bereiten sich ab Oktober für den Ernstfall vor, gründen verschiedene Krisenstäbe, beschaffen wie beispielsweise in Walddorfhäslach zusätzliche Notstromaggregate, sondieren, wo Wärmeinseln eingerichtet werden können. Die Stadtverwaltung Reutlingen hat mit Feuerwehr und Fair-Energie schon lange vor Ausbruch des Ukraine-Kriegs einen Einsatzplan für einen großflächigen Stromausfall ausgearbeitet, appelliert aber auch an die Bürger, selbst vorzusorgen.
Trigema-Chef macht Politikern Vorwürfe
Unternehmen leiden seit Beginn der Energiekrise unter gestiegenen Preisen für Gas, Strom und Öl. Wolfgang Grupp, Geschäftsführer des Burladinger Textilunternehmens Trigema, schlägt immer wieder Alarm. Die Gaskosten des Unternehmens steigen um das Zehnfache, als Konsequenz stellt er die Nachtschicht ein. Da keine Besserung in Sicht ist, übt er in einer Radiosendung im Oktober Kritik: »Diese Notlage ist von der Politik zu korrigieren, da sie den Krieg zugelassen und die Abhängigkeit von russischem Gas verschuldet hat. Dann müssen sie auch dafür sorgen, dass die Wirtschaft dadurch nicht kaputt gemacht wird.«
Rakete schlägt in Polen ein
Die Welt entgeht einem Krieg nur knapp. Eine Rakete schlägt am 15. November in Polen ein, zwei Menschen sterben. Das Land versetzt Teile seiner Streitkräfte im Grenzgebiet in erhöhte Bereitschaft. Medien berichten zunächst, dass es sich um ein russisches Geschoss handelt. Wäre das der Fall gewesen, hätte das andere Länder wie etwa Deutschland und die USA in den Krieg hineinziehen können, da sie ebenso Mitglied der Nato sind wie Polen. Später stellt sich heraus, dass die Rakete wohl von ukrainischen Streitkräften abgeschossen wurde, um einen russischen Angriff abzuwehren. Der Bündnisfall tritt nicht ein.
In Tübingen gehen die Lichter aus
In Tübingen gehen ab 21. November die Lichter aus: Die Stadt schaltet nachts zwischen ein und fünf Uhr, von Donnerstag bis zum Wochenende bis drei Uhr, die Straßenbeleuchtung ab, um Energie zu sparen. Und das ganz ordentlich, denn die Beleuchtung macht zehn Prozent des städtischen Bedarfs aus. Doch das Regierungspräsidium funkt dazwischen: Im Januar weist es Oberbürgermeister Boris Palmer an, die Straßenlampen wieder anzuknipsen, weil Fußgängerüberwege nachts beleuchtet sein müssen. Palmer ist damit erwartungsgemäß nicht einverstanden, die Tübinger Zebrastreifen werden zum Politikum.
Rohöl-Embargo und Preisdeckel
Deutschland stoppt zum Jahreswechsel alle Importe von Rohöl aus Russland. Das Embargo soll es für den russischen Präsidenten Wladimir Putin schwerer machen, den Krieg gegen die Ukraine zu finanzieren. Die ostdeutschen Raffinerien in Schwedt in Brandenburg und Leuna in Sachsen-Anhalt müssen von jetzt an ihre Bezugsquellen umstellen. Von Anfang Februar an will die Europäische Union auch keine verarbeiteten Produkte wie Diesel oder Kerosin mehr aus Russland beziehen. Zudem will die EU einen Preisdeckel für Öl durchsetzen, das Russland an Drittstaaten wie Indien oder China liefert.
Der Krieg wird noch lange dauern
Wann der Krieg in der Ukraine endlich beendet wird, kann keiner voraussagen. Einig sind sich die Experten aber in einem Punkt. Der Konflikt im Herzen Europas wird noch lange dauern und Deutschland sowie Europa noch einiges abverlangen. Zweifel gibt es darüber, ob sich eine Seite militärische durchsetzen kann. Vieles spricht für einen Abnutzungskrieg, der noch viele Menschenleben kosten wird. Das liegt auch daran, dass keine Seite so überlegen ist, um ihre Kriegsziele militärisch zu erreichen. Insofern könnte der Krieg mit einem eingefrorenen Konflikt enden, bei dem der Frontverlauf festgeschrieben wird. (GEA)