NÜRNBERG. Zu wenige Flüchtlinge aus der Ukraine arbeiten, zu viele leben von Bürgergeld. Das ist ein deutsches Problem, in anderen europäischen Staaten verdienen mehr Ukrainer ihren Lebensunterhalt selbst. Dieser Meinung sind CDU, CSU und FDP. Den Grund sehen sie in zu langen Sprachkursen und zu hohen Sozialleistungen, die Lösung in berufsbegleitenden Qualifikationen und gekürzten Bezügen. Ist das berechtigte Kritik oder populistische Hetze? Die Bundesagentur für Arbeit hat die Beschäftigungsquote von Ukrainern in Europa verglichen, Unterschiede festgestellt und Ursachen gefunden. Die Ergebnisse geben Union und Liberalen nur teilweise recht.
Wie viele Ukrainer leben hier?
6,4 Millionen Ukrainer haben ihr Land seit dem russischen Angriff am 24. Februar 2022 nach Schätzungen der Weltflüchtlingsorganisation UNHCR verlassen. Mit 1,1 Millionen hat Deutschland in absoluten Zahlen die meisten Menschen aufgenommen. Zusammen mit 0,2 Millionen Menschen, die sich bereits vor Kriegsbeginn hier aufhielten, leben jetzt 1,3 Millionen Ukrainer in Deutschland.
Wie fit sind Ukrainer für den Job?
Ukrainische Flüchtlinge unterscheiden sich von anderen Flüchtlingen. Ihre rechtlichen Bedingungen sind aufgrund der EU-weiten Aktivierung der Massenzustrom-Richtlinie im Jahr 2022 vergleichsweise günstig: Sie erhalten eine Aufenthaltserlaubnis zumindest bis März 2026, eine Arbeitserlaubnis, Bürgergeld, medizinische Versorgung und Schulbildung. Damit sind Ukrainer besser gestellt als Asylsuchende aus anderen Ländern.
Zwei Drittel aller Ukrainer (869.000 Menschen, 67 %) sind nach Angaben des Ausländerzentralregisters Erwachsene im erwerbsfähigen Alter. Wiederum zwei Drittel davon (547.000 Menschen, 64 %) sind Frauen. Ein Drittel aller Ukrainer sind Kinder und Jugendliche (289.000 Menschen bis 15 Jahre) sowie Senioren (120.000 Menschen ab 65 Jahre). Männer im wehrfähigen Alter sind – bis auf einige Ausnahmen – wegen der Generalmobilisierung mit einem Ausreiseverbot belegt. Damit handelt es sich bei den Ukrainern im erwerbsfähigen Alter größtenteils um faktisch alleinerziehende Mütter. Im Gegensatz dazu besteht die Gruppe der ab 2015 eingereisten Flüchtlinge aus arabischen und afrikanischen Ländern hauptsächlich aus jungen, alleinstehenden Männern.
Die Qualifikation der ukrainischen Frauen ist hoch: 82 Prozent verfügten im Jahr 2022 über akademische oder berufliche Abschlüsse, 85 Prozent über Arbeitserfahrung. Anders bei den von 2013 bis 2019 zugezogenen Flüchtlingen: Hier besuchte nur ein Viertel im Herkunftsland Hochschulen oder berufliche Bildungseinrichtungen, nur zwei Drittel waren erwerbstätig. Zu diesem Ergebnis kommt das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), eine Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit.
Wie viele Ukrainer haben Arbeit?
Einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung gingen im Mai 2024 laut Bundesarbeitsagentur 200.000 Ukrainer (darunter 142.000 Kriegsflüchtlinge) nach, einer geringfügig entlohnten Beschäftigung 50.000 Ukrainer. Damit lag die Beschäftigungsquote für Ukrainer bei 28 Prozent. Die Beschäftigungsquote gibt an, in welchem Umfang die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter zwischen 15 und 65 Jahren eine sozialversicherungspflichtige oder geringfügige Arbeit ausübt.
Welche Jobs machen Ukrainer?
Über die Hälfte der 142.000 Kriegsflüchtlinge mit sozialversicherungspflichtigen Jobs übt eine Hilfstätigkeit aus. Die meisten arbeiten in den Bereichen Gesundheit, Soziales, Handel, Lagerei, Verkehr, Bau, Gastronomie und sonstiger Service (etwa Gartenbau, Gebäudemanagement, Zeitarbeit).
Wie viele Ukrainer kriegen Bürgergeld?
Bürgergeld bezogen im April 2024 (aktuellere Daten liegen nicht vor) 721.000 Ukrainer. Das sind über die Hälfte aller Ukrainer (55 %). Drei Fünftel der Leistungsempfänger sind im erwerbsfähigen Alter (507.000 Menschen). Bürgergeld bekommt, wer bei Arbeitsagenturen oder Jobcentern arbeitslos gemeldet ist (210.000 Menschen), sich weiterbildet (Sprach- oder Integrationskurs; Schule, Studium, Ausbildung, Weiterbildung; Erziehung oder Pflege von Familienangehörigen; 323.000 Menschen) oder als nicht erwerbsfähig registriert ist (215.000 Menschen, meist Kinder).
Wie ist die Lage in anderen EU-Staaten?
Die Beschäftigungsquote für Ukrainer beträgt hierzulande im ersten Quartal 2024 knapp 27 Prozent. Damit liegt Deutschland im europäischen Mittelfeld – gemeinsam mit Staaten wie Österreich (30 %) und Irland (26 %). Spitzenreiter sind Litauen (57 %), Dänemark (53 %) und Polen (48 %). Schlusslichter sind Rumänien (7 %), Finnland (18 %) und Spanien (18 %). Das fand das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in einer Studie aus dem Jahr 2024 heraus. Dort vergleicht das IAB die Arbeitsmarktintegration ukrainischer Flüchtlinge in europäischen Ländern.
Warum arbeiten hier wenige Ukrainer?
Das IAB ist im internationalen Vergleich auf Faktoren gestoßen, welche die Beschäftigungsquote steigern. Dazu gehören hohe Nachfrage nach gering qualifizierten Arbeitskräften, gut ausgebaute Kinderbetreuung, große ukrainische Community, weit verbreitete Englischkenntnisse und längere Aufenthaltsdauer im Zielland. Andere Faktoren senken die Beschäftigungsquote. Das sind höheres durchschnittliches Alter der Geflüchteten und größere Anzahl von Kindern pro Frau sowie steigende Arbeitslosigkeit und stark regulierter Arbeitsmarkt im Zielland. Entgegen anders lautender Annahmen von Union und Liberalen haben soziale Transferleistungen nur einen geringen Einfluss.
Wichtiger ist die Integrationsstrategie des jeweiligen Zielstaats: Drängt er zur schnellen Aufnahme von – auch gering qualifizierter – Arbeit? Oder investiert er in sprachliche und berufliche Qualifikation? Das führt laut IAB zwar anfangs zu geringer Beschäftigung. Doch später steigt die Beschäftigung, ist stabil, qualifiziert und gut bezahlt. Jeder Zielstaat muss sich also entscheiden, ob er ukrainische Flüchtlinge schnell oder nachhaltig in den Arbeitsmarkt integrieren will. Deutschland hat die zweite Option gewählt.
Wie kommen mehr Ukrainer in Arbeit?
Damit Ukrainer schneller in Arbeit kommen, empfiehlt das IAB Deutschland einige Maßnahmen: Die Politik sollte Rechtssicherheit schaffen, wie eine längerfristige Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis erlangt werden kann. Sprachkurse sollten – wie von Union und Liberalen gefordert – früher und berufsbegleitend erfolgen. Bildungs- und Ausbildungsabschlüsse sollten schneller anerkannt werden. Außerdem braucht es Unterstützung bei der Arbeitssuche, finanzielle Anreize für Unternehmen und mehr Kinderbetreuung. (GEA)