REUTLINGEN/BERLIN. Die Zahlen der Ehrenamtlichen in Deutschland, die sich in unterschiedlichen Bereichen wie Sport, Musik, Gesundheitsversorgung, Bevölkerungsschutz und vielem mehr engagieren, variieren. In der Spitze sollen es aber bis zu 29 Millionen Menschen sein, die sich ohne Vergütung dafür einsetzen, dass in der Gesellschaft vieles funktioniert, was mit Geld alleine gar nicht zu stemmen wäre. Aus diesem Grund widmet der Reutlinger General-Anzeiger all jenen, die freiwillig Gutes tun, die diesjährige Sommerserie »Helden des Ehrenamts«. In zwölf Teilen beleuchtet der GEA Erfolge und Probleme, erzählt schöne Geschichten von Menschen, ihrer Arbeit und ihrer Motivation. Die Betreuung des Ehrenamts ist in den Bundesländern unterschiedlich geregelt. So hat Baden-Württemberg selbst keinen Ehrenamtsbeauftragten. Im Südwesten ist die Betreuung des Ehrenamts beim Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration angesiedelt.
Zum Auftakt der Serie hat der GEA daher mit Deutschlands höchster Ehrenamtsvertreterin, Staatsministerin Christiane Schenderlein, gesprochen. Im Interview erklärt sie, warum das Ehrenamt für Deutschland so wichtig ist, wie es von Seiten der Regierung gefördert werden soll, aber auch mit welchen Unwegsamkeiten die freiwilligen Helfer heute kämpfen.
GEA: Frau Schenderlein, Sie sind seit Mai Staatsministerin für Sport und Ehrenamt. Kurz gefragt, warum ist das Ehrenamt so wichtig für Deutschland?
Christiane Schenderlein: Ehrenamt und Engagement haben in den letzten Jahren oft gezeigt, was sie gerade angesichts großer gesellschaftlicher Herausforderungen leisten können. Genauso engagieren sich Millionen Menschen jeden Tag und abseits des Rampenlichts. Ob bei Rettungskräften und im Bevölkerungsschutz, in einer Nachbarschaftsinitiative, im Musik- und Theaterverein, im Umwelt- und Naturschutz, der Kommunalpolitik oder in unzähligen weiteren Bereichen: Ohne Ehrenamt würde unsere Gesellschaft nicht funktionieren. Das gilt im Kleinen wie im Großen. Sich engagieren heißt mitgestalten und mitentscheiden, teilhaben und Teilhabe ermöglichen, zusammen gemeinsam gefundene Wege gehen.

Statistische Erhebungen liefern unterschiedliche Zahlen zu den Freiwilligendiensten und ehrenamtlichen Helfern. Generell gehen die Institute von rund 29 Millionen Engagierten aus. Könnte Deutschland überhaupt ohne diese Menschen funktionieren und in welchen Bereichen sind diese besonders wichtig?
Schenderlein: Natürlich sind und bleiben es die staatlichen Behörden und Institutionen, die zuallererst für Sicherheit, Schutz und sozialen Ausgleich zuständig sind. Aber unsere Gesellschaft und unser Zusammenleben sind vom Engagement von Bürgerinnen und Bürgern, Vereinen, Stiftungen und Unternehmen geprägt und sie werden durch diesen freiwilligen Einsatz bereichert. Dabei sind Ehrenamt und Engagement so vielfältig wie unsere Gesellschaft. Ob organisiert oder spontan in einer Initiative, ob innovativ und digital oder traditionell und analog: In Deutschland hat nicht nur jedes Engagement seinen Platz, Deutschland braucht auch dessen ganze Bandbreite.
In einigen Bereichen ist die Bereitschaft für ehrenamtliches Engagement zurückgegangen, gleichzeitig wächst die Zahl der Aufgaben, welche durch Freiwillige abgedeckt werden. Wie kann man heute die Menschen wieder mehr dafür begeistern?
Schenderlein: Es gibt beim Ehrenamt einen Strukturwandel. Gerade junge Menschen möchten sich heute öfter flexibel und vorübergehend engagieren. Auch Bereiche, in denen man sich digital engagieren kann, wachsen. Dagegen nimmt die Bereitschaft ab, sich langfristig und in einem Amt, etwa im Vorstand eines Vereins, einzubringen. Das bedeutet nicht, dass wir das eher traditionelle Ehrenamt mit seinen festen Strukturen aus dem Auge verlieren dürfen. Im Gegenteil: Wir können Vereine und Organisationen dabei unterstützen, sich auf die sich wandelnden Wünsche und Gewohnheiten von Freiwilligen einzustellen. Ganz wichtig ist hierbei die Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt. Sie ist eine starke Partnerin an der Seite der Ehrenamtlichen in Deutschland – in der Förderung, Fortbildung, Qualifizierung und Beratung in Zeiten des Wandels.
»Ehrenamt und Engagement brauchen Luft zum Atmen und Bewegungsfreiheit«
In Baden-Württemberg wurde jüngst die Ehrenamtskarte eingeführt, mit der engagierte Menschen beispielsweise vergünstigten Eintritt in Museen oder Bäder erhalten. Gibt es ähnliche oder andere Projekte auf Bundesebene, die Sie voranbringen wollen, oder sind solche geplant?
Schenderlein: Die Ehrenamtskarten, die es in einigen Ländern schon gibt oder in Planung sind, sind eine tolle Sache. Allerdings unterscheiden sich die Lösungen von Land zu Land. Und es ist auch sinnvoll, die Vergünstigungen möglichst nah an den jeweiligen Gegebenheiten auszurichten. Wir müssen aufpassen, dass wir auf Bundesebene keine zusätzlichen bürokratischen Aufwände schaffen oder den Wert der Landesehrenamtskarten infrage stellen.
ZUR PERSON
Christiane Schenderlein (geboren 1981) ist CDU-Politikerin und Kommunikationsberaterin. Sie war von 2019 bis 2022 Mitglied des Sächsischen Landtages und ist seit 2021 Mitglied des Deutschen Bundestages. Seit Mai ist sie im Kabinett Merz Staatsministerin für Sport und Ehrenamt. Schenderlein ist Mitglied im Freundeskreis der Bundeswehr Leipzig e. V. und Mitglied im Verband der Reservisten der deutschen Bundeswehr. Seit 2022 ist sie stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft e.V.. (GEA)
Die rund 600.000 Vereine in Deutschland, in denen sich die meisten Ehrenamtlichen engagieren, beklagen oft die Bürokratie, die sie in ihren Tätigkeiten hindert. Jede einzelne Regel auf Vereine zuzuschneiden ist sicher nicht möglich, wäre aber eine Generalregelung denkbar, welche die Vereine von großen Teilen der Bürokratie ausnimmt, um so das Ehrenamt wieder flexibler und handlungsfähiger zu machen?
Schenderlein: Ehrenamt und Engagement brauchen Luft zum Atmen und Bewegungsfreiheit. Wir wollen und müssen den Ehrenamtlichen bei Regeln und Vorschriften das Leben deutlich einfacher machen. Viel wurde in der Vergangenheit über Bürokratieabbau geredet, aber wir brauchen jetzt eine spürbare Entlastung. Ich habe nun alle beteiligten Ministerien an einen Tisch geholt. Die Arbeit hat begonnen und es gibt die Übereinkunft, dass wir gemeinsam einen Zukunftspakt Ehrenamt schmieden. Dabei wollen wir Vorschriften im Datenschutz-, Vereins- und Zuwendungsrecht vereinfachen. Im Gemeinnützigkeitsrecht wollen wir insbesondere für kleine Vereine steuerliche Freigrenzen erhöhen. Sachspenden an gemeinnützige Organisationen sollen soweit wie möglich von der Mehrwertsteuer befreit werden. Haftungsfragen sollen so angepasst werden, dass es leichter fällt, Verantwortung zu übernehmen.
Wie wollen Sie als neue Staatsministerin das Ehrenamt generell fördern oder voranbringen? Was haben Sie sich für ihr neues Amt vorgenommen?
Schenderlein: Regeln und Vorschriften beherzt zurückzuschneiden wie Ranken in einem zugewachsenen Garten: Das ist schon ein großer Beitrag dazu, Ehrenamt und Engagement wirksam zu unterstützen und zu stärken. Daneben wollen wir aber auch die finanziellen Rahmenbedingungen verbessern. Dazu gehört, dass die Übungsleiterpauschale von 3.000 auf 3.300 Euro und die Ehrenamtspauschale von 840 auf 960 Euro steigen soll. Es gilt, die Förderbedingungen so weit wie möglich zu vereinfachen und zu vereinheitlichen, um die Unterstützung für Vereine und Organisationen zugänglicher zu machen. Ich stehe für eine aktive und schlagkräftige Ehrenamts- und Engagementpolitik der Bundesregierung. Diese Politik wird die Leistungen, die Ehrenamtliche und Engagierte für die Gesellschaft erbringen, sichtbarer machen und ihnen die Anerkennung geben, die sie verdienen.
Von 2014 bis 2021 waren Sie ehrenamtliche Kirchvorsteherin in der Gemeinde Taucha-Dewitz-Sehlis. Welche wichtigen Erfahrungen haben Sie ganz persönlich aus diesem Ehrenamt mitgenommen?
Schenderlein: Ja, ich war sieben Jahre im Kirchenvorstand bei mir in der evangelischen Gemeinde. Das war für mich sehr bereichernd, aber auch anspruchsvoll. Als Kirchenvorstand kümmert man sich beispielsweise um Personalführung und um Bauprojekte. Das bedeutet viel Organisation und Abstimmung. Das Gute ist aber: Man kann anderen helfen, direkt etwas bewegen und sieht Ergebnisse. Im Ehrenamt erleben wir ganz konkret Selbstwirksamkeit und lernen fürs Leben dazu. Genau das motiviert viele, sich zu engagieren. Und dazu möchte ich auch als Staatsministerin für das Ehrenamt ermutigen. (GEA)

