BERLIN/WEINGARTEN. Überfüllte Notaufnahmen, überlastete Hausärzte, überteuerte Medikamente: Das deutsche Gesundheitswesen ist krank. Der Preis steigt, der Bürger zahlt mehr, die Leistung hält nicht mit. Ein Ende ist nicht in Sicht: Die gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) hoben die Beiträge zum Jahreswechsel, weitere Aufschläge werden erwartet. Trotzdem ist die Versorgung bloß Mittelmaß. Den Kollaps kann nur eine Radikalkur verhindern. Klar ist das allen, passiert ist nichts. Jetzt wächst der Druck.
Zweitteuerstes Gesundheitssystem
Deutschland lässt sich sein Gesundheitssystem viel kosten: 500 Milliarden Euro waren es im Jahr 2024. Damit belegt die Bundesrepublik Platz zwei der internationalen Rangliste. Das zeigen die Zahlen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Der Institution gehören 38 Mitgliedstaaten an, größtenteils reiche Länder. Der Vergleich ergibt: Deutschlands Gesundheitsausgaben betrugen 12,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Nur die USA investierten mehr (16,6 %), der OECD-Durchschnitt lag bei 9,2 Prozent.
Den Löwenanteil der Gesundheitskosten in Deutschland tragen die gesetzlichen Krankenversicherungen. Gesicherte Zahlen liegen dem Spitzenverband für das Jahr 2023 vor: Das Gesamtbudget belief sich damals auf 306,4 Milliarden Euro, auf Leistungen entfielen 288,6 Milliarden Euro. Kostentreiber sind Kliniken mit 32,6 Prozent der Leistungsausgaben (94,0 Milliarden Euro), Medikamente mit 17,4 Prozent (50,2 Milliarden Euro) und niedergelassene Ärzte mit 16,3 Prozent (47,1 Milliarden Euro).
Die GKV-Ausgaben steigen seit Jahren. Für 2024 erwartet der Spitzenverband nach aktueller Schätzung ein Defizit von 5,5 Milliarden Euro. Für die Kostenexplosion verantwortlich gemacht wird gemeinhin der demografische Wandel: Die Menschen werden älter und kränker. Dazu kommt der medizinische Fortschritt: Operationsroboter in der Chirurgie und Gentherapien in der Onkologie retten Leben – aber das hat seinen Preis.
GKV-Beiträge bis zu 20 Prozent
Die GKV ist kein privatwirtschaftliches Unternehmen, sondern quasi eine staatliche Verwaltungseinheit. Sie darf weder Gewinne noch Verluste machen, sondern muss kostendeckend wirtschaften. Lange Zeit funktionierte das, die Einnahmen sprudelten, viele Beschäftigte zahlten hohe Beiträge – auch dank Zuwanderung und erwerbstätigen Frauen.
Doch die Einnahmen halten nicht Schritt mit den Ausgaben. Die GKV schreibt seit Jahren rote Zahlen. Macht sie Miese, erhöht sie Beiträge. Zum Jahreswechsel schlug sie auf um durchschnittlich 0,8 Prozent auf 17,1 Prozent des Arbeitsentgelts. Den Beitrag teilen sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber jeweils zur Hälfte. Hinzu kommen kleinere Zuzahlungen der Patienten etwa für Klinikaufenthalte, Medikamente oder Brillen. Weil das nicht reicht, schießt die Bundesregierung seit langem 14,5 Milliarden Euro Steuern pro Jahr zu.
Doch das reicht nicht: Mit Erhöhung der Beiträge auf bis zu 20 Prozent wird gerechnet, wenn die Babyboomer verstärkt in Rente gehen.

Bei Lebenserwartung nur Mittelmaß
Viel Geld gleich gute Gesundheit? Die Rechnung geht nicht auf. Im OECD-Vergleich liegt Deutschland bei den Ausgaben zwar vorn, bei der Lebenserwartung aber nur im Mittelfeld. Hierzulande können Männer mit 79 Jahren rechnen, Frauen mit 84 Jahren – zwar länger als Amerikaner (77/82) und genauso lang wie Briten, aber kürzer als Franzosen (81/86) und Italiener (82/86). Das zeigt: Es geht nicht nur darum, wie viel Geld investiert wird. Sondern auch darum, wofür.
Kosten-Nutzen-Verhältnis stimmt nicht
Jan-Marc Hodek bringt das Dilemma auf den Punkt: »Im deutschen Gesundheitswesen ist das Kosten-Nutzen-Verhältnis verbesserungsfähig.« Hodek ist Professor für Gesundheitsökonomie an der Hochschule Ravensburg-Weingarten und will mehr Effizienz ins System bringen. Sein Credo: »Effizienz steigern ist besser als Leistung kürzen.« Der Clou: »Im Idealfall verbessert sich die Qualität, ohne dass die Kosten aus dem Ruder laufen.« Hodek spricht von »Effizienzsteigerung«, die GKV von »Strukturreform«, Noch-Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) von »Revolution«. Einig sind sich alle: So geht es nicht weiter, es muss sich was ändern. Aber was?

Spezielle Kliniken für schwere Fälle
Der Sachverständigenrat für das Gesundheitswesen attestiert dem deutschen System seit vielen Jahren »Über-, Unter- und Fehlversorgung«. Das erste einschlägige Gutachten stammt aus den Jahren 2000/2001 – und trifft noch heute weitgehend zu.
Das gilt auch für Krankenhäuser. »Wir halten Spitzenmedizin vor, aber wir setzen sie nicht immer und überall ideal ein«, beklagt Hodek. »Wir schaffen es teils nicht, schwere Fälle in spezialisierte Häuser zu bringen.« Beispiele gibt es genug: Patienten mit Schlaganfall werden zu 23 Prozent in Kliniken ohne Stroke-Unit behandelt, Patientinnen mit Brustkrebs zu 15 Prozent in Kliniken ohne onkologisches Zentrum, Patienten mit Herzinfarkt zu 7 Prozent in Kliniken ohne Herzkatheterlabor – obwohl diese Ausrüstung die Überlebenschance erhöht. Doch es gibt auch den umgekehrten Fall: Leistenbrüche etwa werden in Deutschland zu 85 Prozent stationär behandelt, in Dänemark zu 85 Prozent ambulant – zum Vorteil von Gesundheit und Geldbeutel der Patienten.
Die einen bekommen zu wenig, die anderen zu viel. Diese Fehlverteilung von Ressourcen hat einen einfachen Grund: In Deutschland gibt es zu viele Kliniken – vor allem zu viele mittelmäßige. Das zeigt ein Vergleich: Dänemark hat 30 Kliniken – Stuttgart 10, München 20, Berlin 60. Die Betten hierzulande sind im Schnitt nur zu rund 70 Prozent ausgelastet.
Hodek will keinen Kahlschlag, sein Rezept lautet: »Stationäre Versorgung konzentrieren und spezialisieren, ambulante Versorgung flächendeckend aufbauen.« Und dann die Patienten zu den richtigen Versorgern lenken: »Schwere Fälle kommen ins Krankenhaus, leichte Fälle in die Ambulanz.«
Orientierung im Gesundheits-Dschungel
Das deutsche Gesundheitssystem ist ein Dschungel, Patienten verlaufen sich leicht – und verschwenden Ressourcen. Notaufnahmen sind verstopft mit leichten Fällen; Kliniken behandeln Kranke, die in Praxen besser aufgehoben wären; Ärzte beklagen Mehrfach-Untersuchungen. Abhilfe schaffen soll eine bessere Steuerung. Der Plan: Hausärzte lotsen Patienten verstärkt zu passenden Fachärzten und Krankenhäusern.
Staat spart auf Kosten der Versicherten
Als wäre die Versorgung der Versicherten noch nicht teuer genug, muss die GKV zusätzlich »versicherungsfremde Leistungen« bezahlen. So zumindest sieht das die GKV. Derartige Ausgaben gibt es viele. Ins Feld geführt werden häufig die Bürgergeldempfänger: Deren Gesundheitsversorgung bezahlt die GKV zum Teil, 10 Milliarden Euro kostet das pro Jahr. Oder die Familienversicherung: Der berufstätige Ehepartner zahlt den Kassenbeitrag, der nicht-berufstätige Ehepartner und die Kinder sind gratis mitversichert. Oder der Transformationfonds: 50 Milliarden Euro sollen die Kliniken für die Umstrukturierung bekommen, die Hälfte von der GKV.
Doch die GKV sträubt sich. »Es muss Schluss sein damit, dass die Versicherten für Aufgaben des Staates zahlen«, heißt es in einem Positionspapier. Der Spitzenverband appelliert an die neue Regierung: »Der Staat muss endlich seine Finanzierungsverantwortung für gesamtgesellschaftliche Aufgaben selbst wahrnehmen.« Sprich: Steuermittel einsetzen.
Mehr Beitragszahler für die GKV
Nicht nur an den Ausgaben wird geschraubt, auch an den Einnahmen. Das Ziel sind mehr Beitragszahler, dafür gibt es mehrere Modelle. Ein Lieblingsprojekt linker Parteien ist die Bürgerversicherung: Alle Bürger zahlen in die GKV ein – auch Beamte und Gutverdiener. Private Krankenkassen entfallen. Doch ein Blick in die Statistik zeigt: 90 Prozent der Bevölkerung (75 Millionen Menschen) sind gesetzlich versichert, 10 Prozent privat. Oder mit Hodeks Worten: »Die Bürgerversicherung rettet nicht das System.«
In dieselbe Richtung geht die Erhebung von Sozialabgaben auf Kapitalerträge. Mit diesem Vorschlag ist Grünen-Kanzlerkandidat Robert Habeck vorgeprescht. Damit will er Reiche stärker zur Kasse bitten. Eine politische Mehrheit gibt es für den Vorstoß nicht.
Lobbyisten blockieren Kürzungen
Das Problem ist nicht neu: Seit Jahrzehnten steuert das Gesundheitssystem in die Krise. Seit Jahrzehnten geloben Gesundheitsminister Reformen. Passiert ist nichts. Der Grund ist einfach: 500 Milliarden Euro pro Jahr stecken im Gesundheitstopf. Sechs Millionen Beschäftigte leben davon. Keine andere Branche ist so groß, weder Auto- noch Energiewirtschaft. Mit viel Aufwand vertritt sie ihre Interessen in der Politik: 6.000 Akteure zählt das Lobbyregister des Bundestags, jeder dritte stammt aus dem Gesundheitsbereich, keiner will Budgetkürzungen.
Weitere Gruppen mischen mit: Da sind Bund, Länder und Kommunen, wegen der Mischfinanzierung des Gesundheitssystems haben alle ein Mitspracherecht. Über die Selbstverwaltung sitzen auch Krankenkassen, Klinikbetreiber und niedergelassene Mediziner am Verhandlungstisch. Alle sind sich einig: 1.900 Krankenhäuser sind zu viel. Aber kein Land, keine Kommune, kein Klinikbetreiber will »sein Krankenhaus« schließen.
Die große Reform wurde oft angekündigt – und dann weichgespült zum kleinen Reförmchen. Das konnte Deutschland sich lang leisten. Denn die Wirtschaft brummte, die Leute arbeiteten, die Beiträge flossen. Damit ist es jetzt vorbei.
Die große Reform muss kommen
Der Reformdruck steigt: Wegen der Wirtschaftsflaute gibt es weniger Geld zu verteilen. Andere Probleme – Wirtschaft, Migration, Verteidigung – haben Vorrang. Da bleibt wenig übrig für Gesundheit. Umgekehrt steigt der Bedarf: Die Bevölkerung wird älter und kränker. Weniger Junge arbeiten als Ärzte und Pfleger. Der Spielraum schrumpft, der Handlungsbedarf wächst, Weiter-so geht nicht.
Lauterbach wollte das Gesundheitssystem umkrempeln. Mit seiner Gesetzesflut hat er den Stein ins Rollen gebracht. Das Ampel-Aus kostet womöglich auch ihn das Amt. Doch egal, wer nächster Gesundheitsminister wird, Hodek ist überzeugt: »Die neue Regierung kommt um ernsthafte Strukturreformen nicht herum.« (GEA)