REUTLINGEN. Bundeskanzler Olaf Scholz hat im Bundestag die Vertrauensfrage gestellt und sie sehenden Auges verloren. Er hat damit der Auflösung des Bundestages und vorgezogenen Neuwahlen den Weg bereitet. In den gut 75 Jahren seit Gründung der Bundesrepublik ist es erst das sechste Mal, das ein deutscher Regierungschef zu dieser Maßnahme greift. Der historische Moment wird jedoch von keiner der Parteien gewürdigt, stattdessen wird von allen die Wahlkampf-Keule geschwungen.
Selbstkritische Reflexion wäre wünschenswert
Dass angesichts von Neuwahlen am 23. Februar der Wahlkampf begonnen hat, ist klar. Angesichts des historischen Moments, wäre etwas mehr selbstkritische Reflexion jedoch wünschenswert gewesen. Es kommt ja schließlich nicht jeden Tag vor, dass eine deutsche Regierung über ihren Differenzen zerbricht. Zuvor gab es das erst vier Mal in der Geschichte der Bundesrepublik. Es besteht jedoch die Gefahr, dass dies in Zukunft häufiger passieren könnte. Die Stärke der rechtsextremen AfD zwingt Parteien zur Zusammenarbeit, die ideologisch mehr trennt als verbindet. Wenn es den Parteien nicht gelingt, über ihren Schatten zu springen und ideologische Differenzen zu überbrücken, dann drohen Deutschland bald italienische Verhältnisse. Damit gemeint sind Neuwahlen im Jahresrhythmus oder alle zwei Jahre. Ähnlich ging es auch in der Weimarer Republik zu - mit bekanntem Ausgang.
Permanente Herabwürdigung schadet der Demokratie
Doch anstelle in staatstragendem Ton, den Geist künftiger Zusammenarbeit zu beschwören, teilen die Politiker aller Couleur auf persönlicher Ebene, teilweise unter der Gürtellinie, gegeneinander aus. Dieser teilweise ehrverletzende Umgang jenseits aller sachlicher Argumentation ist nicht nur problematisch hinsichtlich einer Koalitionsbildung nach der Wahl. Durch die permanente Herabwürdigung der politischen Konkurrenz leidet auch das Bild des Politikers im Allgemeinen in den Augen der Bevölkerung. Und damit letztlich die Demokratie an sich.