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Aktuell Massaker

Verbitterung gegen Versöhnung

Im griechischen Bergdorf Distomo wüteten vor 75 Jahren die SS-Besatzer besonders brutal

Ein griechischer Priester vor den Totenschädeln der Opfer des Massakers von Distomo.  FOTO: DPA
Ein griechischer Priester vor den Totenschädeln der Opfer des Massakers von Distomo. FOTO: DPA
Ein griechischer Priester vor den Totenschädeln der Opfer des Massakers von Distomo. FOTO: DPA

DISTOMO. Distomo ist ein stilles Dorf. Delphi, das griechische Orakel und Weltkulturerbe, liegt nur eine halbe Autostunde weit weg mitten in der atemberaubenden Landschaft am Fuß des Parnass-Gebirges. Tausende Touristen besuchen die Ruinen tagtäglich. Drunten am Meer in Itea legen ganzjährig die Kreuzfahrtschiffe an. In Bussen werden die Besucher hochgekarrt. Nach Distomo kommen nur ganz wenige. »Ein paar deutsche Sühnetouristen«, nennt sie ein hiesiger Grieche. Vor genau 75 Jahren geschah in Distomo eines der abscheulichsten deutschen Kriegsverbrechen.

Beistand für Botschafter

Vor zwei Jahren wurde es laut im stillen Distomo. Der damalige deutsche Botschafter Peter Schoof wollte zum Jahrestag des Massakers vom 10. Juni 1944 einen Kranz niederlegen am Mahnmal, einer Schädelstätte für die 218 damals von einer Einheit der Waffen-SS bestialisch Ermordeten: Frauen, Greise, Kinder, Säuglinge. Da stellte sich ihm die Syriza-Abgeordnete und zeitweilige griechische Parlamentspräsidentin Zoe Konstantopoulou in den Weg und schrie aufgebracht: »Sie haben nicht das Recht!« Sie forderte Reparationszahlungen für die Hinterbliebenen und »Gerechtigkeit!«.

»Bravo!« riefen die einen, »Schande!« andere Besucher der Gedenkfeier – noch mitten in der Griechenland-Krise, die viel altes böses Blut gegenüber Deutschland in Wallung gebracht hatte. Der greise griechische Widerstandskämpfer Manolis Glezos, ein Nationalheld, seit er als junger Mann die Hakenkreuzflagge von der Athener Akropolis holte, stand auf, nahm den Botschafter bei der Hand und führte ihn zur Kranzniederlegung. »Das Kind eines Verbrechers, was auch immer die Verbrechen des Vaters oder der Mutter seien, ist dafür nicht verantwortlich«, begründete er seinen Beistand für den Botschafter.

Viel Aufsehen hatte zwei Jahre zuvor der leise Auftritt des 1940 geborenen Griechen und Schweizers Argyris Sfountouris in der aufklärerischen ZDF-Satiresendung »Die Anstalt« erregt. Er hatte sich als damals knapp vierjähriger Überlebender des SS-Gemetzels offenbart und von seinen vergeblichen Versuchen berichtet, für die Hinterbliebenen Entschädigung zu erstreiten. Ein zunächst rechtskräftiges griechisches Urteil über die Zahlung von rund 40 Millionen Euro gegen Deutschland als Rechtsnachfolger hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kassiert. Die deutschen Diplomaten hatten sich stets mit der Begründung gegen Regress gewehrt, das Massaker sei eine »normale Maßnahme im Rahmen der Kriegführung« gewesen. Die SS-Leute der 4. Polizei-Panzergrenadier-Division waren in einem Nachbardorf in ein Gefecht mit griechischen ELAS-Partisanen geraten, bei dem drei Deutsche getötet wurden. Die »Vergeltungsaktion« galt dem Dorf Distomo, von dessen rund 1 800 Einwohnern die meisten rechtzeitig fliehen konnten. An den zurückgebliebenen Frauen, Kindern und Greisen – das jüngste Mordopfer war 3 Monate, das älteste 93 Jahre alt – verübten die SS-Leute einen beispiellos sadistischen Exzess und brannten danach alle Häuser nieder. Der schwedischer Rotkreuz-Vertreter und Diplomat Sture Linnér, der wenig später in das Dorf gekommen war, berichtete von mit Bajonetten aufgeschlitzten Schwangeren, Vergewaltigten mit abgeschnittenen Brüsten, Enthaupteten, zertretenen Kinderschädeln, ausgestochenen Augen und ausgeweideten Gehenkten.

Die Brutalität gegenüber unbeteiligten Zivilisten überstieg selbst die üblichen Grausamkeits-Maßstäbe der SS-Besatzer, so dass der Kompaniechef Fritz Lautenbach als Kommandeur der Racheaktion – er fiel später – seinen Vorgesetzten einen völlig wahrheitswidrigen und verharmlosenden Einsatzbericht zukommen ließ, an dem sogar bei den skrupellosen Befehlshabern Zweifel aufkamen.

Argyris Sfountouris entkam aus seinem unentdeckten Versteck in einem brennenden Haus an der Hand seiner älteren Schwester. Neben seinen Eltern verlor er rund 30 Verwandte bei dem Gemetzel. Über ein Kinderhilfswerk gelangte der Waise später in die Schweiz, studierte dort und war als Lehrer, Wissenschaftler, Literat, Übersetzer und Entwicklungshelfer tätig. Er lebt heute abwechselnd in Zürich und in Athen.

Forderung nach Entschädigung

Für die Griechen ist das Massaker von Kalavryta, bei dem 674 angebliche und tatsächliche Widerstandskämpfer hingerichtet wurden und die SS-Schergen ein national bedeutsames Kloster dem Erdboden gleichmacht hatten, das vielleicht Gewichtigere. Beim Massenmord an – zuvor verbündeten- italienischen Kriegsgefangenen auf der Insel Kefallonia gab es mit rund 5 000 Erschossenen noch weit mehr Tote. Doch Distomo übertrifft beide Kriegsverbrechen fraglos an Bestialität.

Griechische Politiker fordern wegen des Zweiten Weltkriegs immer wieder Reparationen von Deutschland. 2003 wies der Bundesgerichtshof entsprechende Reparationsforderungen ab, 2006 bestätigte das Bundesverfassungsgericht diese Auffassung. Einziges Zeichen einer Bitte um Vergebung waren die Worte des damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck bei seinem Staatsbesuch im März 2014, bei dem er die Familien der durch die deutschen Besatzer Ermordeten »mit Scham und Schmerz« um Verzeihung bat. Die 4. SS-Polizei-Panzergrenadier-Division hielt bis zur Selbstauflösung der Veteranenorganisation im Jahr 2 000 alljährlich Kameradschaftstreffen im mainfränkischen Marktheidenfeld ab.

In Distomo gibt es neben der in den 80er-Jahren errichteten Gedenkstätte mit dem Beinhaus ein Denkmal am Ortseingang für die »Märtyrerstadt«. An der vielbefahrenen Nationalstraße von Delphi in Richtung Levadia und Athen einige Kilometer weiter ist ein martialisches Denkmal für die Widerstandskämpfer errichtet worden. Es gibt ein kleines Museum zum Massaker in der früheren Schule im Ortskern, das sonntags nur wenige Stunden geöffnet ist. Und eines Bürgermeisters wird mit einer Bronzebüste gedacht, der die Partnerschaft mit dem französischen Ort Oradour-sur-Glane in die Wege geleitet hat. Dort hatten am gleichen Tag, dem 10. Juni 1944, SS-Rächer eine ähnliche »Vergeltungsaktion« durchgeführt. Bei diesem Kriegsverbrechen ermordete die Waffen-SS mit rücksichtsloser Brutalität 642 Zivilisten.

Distomo ist ein stiller Ort. Man sieht nur wenige Menschen auf den Straßen. Und sie wirken scheu. Mag sein, dass sie den wenigen deutschen »Sühne-Touristen« aus dem Weg gehen. (GEA)