LONDON. Zuerst will es keiner glauben. Es passiert kurz vor neun Uhr morgens, auf dem Höhepunkt der Stoßstunde, die Züge sind voll mit Pendlern. Eine Explosion erschüttert den Londoner U-Bahnhof Liverpool Street. Ein Kurzschluss im Netz, lautet die erste Erklärung des U-Bahnbetreibers »Transport of London«. Dann wird offensichtlich, dass mehr dahintersteckt. Wenige Minuten nach neun knallt es in der U-Bahnstation Edgeware Road, kurz darauf explodiert eine weitere Bombe im U-Bahntunnel zwischen Russell Square und King’s Cross. Schließlich, eine Stunde später, zerreißt der vierte Sprengsatz einen Bus nahe des Tavistock Square.
Am 7. Juli vor 20 Jahren bringen vier Selbstmordbomber den Terror ins Herz der britischen Hauptstadt. Die Anschlagsserie reißt 52 Menschen in den Tod und verletzt weitere 700 Unschuldige. Der Anschlag ist bis heute der verheerendste islamistische Terrorakt auf britischem Boden.
Die Notfalldienste leisten ihr Bestes. Obwohl noch am Morgen des 7. Juli der Londoner Polizeichef Ian Blair im Radio tönt, dass London eine der bestgesichertsten Städte der Welt sei, wissen die Behörden doch, dass ein Terroranschlag nur eine Frage der Zeit ist. Die Pläne liegen bereit, der Drill zahlt sich aus. Der gesamte Verkehr im U-Bahnnetz wird gestoppt, rund eine Viertelmillion Fahrgäste müssen evakuiert werden. An den Tatorten konzentrieren sich die Einsatzkräfte. Notfallärzte, Ambulanzen, Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe, Spurensicherung oder Feuerwehr: Alle arbeiten Hand in Hand, der Abtransport der Verletzten zu den Krankenhäusern geschieht problemlos, trotz der schwierigen Verkehrslage.
Der Terror ist hausgemacht
Auch die Polizei arbeitet hervorragend und kann schnell, innerhalb von wenigen Tagen, die Identität der Bomber feststellen. Es handelt sich um muslimische Briten, der Terror ist hausgemacht. Mohammad Sidique Khan, 30 Jahre alt, Shehzad Tanweer (22), Hasib Hussain (18) und der 19-jährige Germaine Lindsay sind allesamt im Land geboren und haben, wie eine parlamentarische Untersuchungskommission später befindet, keinen Ausbilder des Terrornetzwerks Al Kaida zur Seite. Geleitet zwar von der Ideologie des Osama bin Laden, sind sie logistisch doch völlig auf sich allein gestellt.
Die vier Männer aus dem Norden Englands entsprechen nicht dem Klischee vom radikalen Islamisten. Glatt rasiert und normal gekleidet, vermitteln sie den Eindruck, als ob sie sich gut in die britische Gesellschaft integriert hätten.
Doch genau das war nicht der Fall. Die vier Bombenleger haben sich nur oberflächlich angepasst. Tatsächlich führen sie ein Doppelleben, so gut kaschiert, dass selbst die nächsten Angehörigen nichts ahnen. Womöglich durch frühe rassistische Erfahrungen der Gesellschaft entfremdet, sicherlich durch die britische Teilnahme am Irak-Feldzug radikalisiert: Die vier Freunde aus Leeds suchen und finden ihr Schicksal in einem Todeskult, der sie gegen die eigenen Familien ebenso aufbringt wie gegen die Nation als Ganzes. Sie bilden eine Zelle und können mit einer Investition von wenigen tausend Pfund einen mörderisch effizienten Anschlag ausführen.
Noch einmal, genau zwei Wochen später, ebenfalls an einem Donnerstag, kommt es wieder zum Großalarm in London, als vier weitere Attentäter ihre Rucksackbomben zünden wollen. Zum Glück explodiert keine. Man hat Glück. Doch die Nerven liegen blank. Einen Tag später erschießt die Polizei Jean Charles de Menezes. Eine unglaubliche Panne: Der 27-jährige Brasilianer wird von den Sicherheitskräften fälschlicherweise für einen Terroristen gehalten und in einem U-Bahnzug mit mehreren Kopfschüssen förmlich hingerichtet. Wenig später stellt sich heraus, dass er völlig unschuldig ist. Die Polizei arbeitet fieberhaft, die Möchtegern-Selbstmörder der zweiten An-schlagswelle zu finden und hat Erfolg: Am 29. Juli werden die vier verhinderten Bomber aufgespürt und verhaftet.
Fahrräder finden reißenden Absatz
Die Londoner U-Bahn, die älteste der Welt, wird »Tube« genannt und ist genau das: eine Röhre. So eng ist diese Röhre, dass die Züge gerade hineinpassen, und die Passagiere keine Chance hätten, aus den Waggons zu klettern, falls diese in den Tunnels stecken bleiben. Wer Fantasie hat und sich ausmalen kann, was den Menschen im explodierten Zug zwischen Russell Square und King’s Cross, im Inferno dreißig Meter unter dem Erdboden, widerfahren ist, der hat vom U-Bahnfahren erst einmal genug. Nie werden so viele Fahrräder verkauft wie nach den Anschlägen. Man überlegt sich zweimal, ob man wirklich in die Stadt fahren muss.
Doch langsam kehrt die Normalität wieder ein. Es bleibt einem auch gar nichts anderes übrig, ohne U-Bahn funktioniert die Stadt nicht. Und wer aufs Fahrrad umsteigt, so rechnen die Experten vor, hat statistisch gesehen eine größere Chance, ums Leben zu kommen. (GEA)
