Logo
Aktuell INTERVIEW

Tübinger Strafrechtsprofessor: »Härtere Strafen helfen nicht«

Der Tübinger Strafrechtsprofessor Jörg Kinzig hat ein Buch über Verbrechen und Bestrafung geschrieben

Auch Bilder vom Tatort eines Verbrechens können bei Betrachtern Angst wecken. In diesem Fall hat in Hamburg ein Hausbewohner ein
Auch Bilder vom Tatort eines Verbrechens können bei Betrachtern Angst wecken. In diesem Fall hat in Hamburg ein Hausbewohner einen Einbrecher erschossen. FOTO: BOCKWOLDT/DPA
Auch Bilder vom Tatort eines Verbrechens können bei Betrachtern Angst wecken. In diesem Fall hat in Hamburg ein Hausbewohner einen Einbrecher erschossen. FOTO: BOCKWOLDT/DPA

TÜBINGEN. Nicht nur an den Stammtischen sind Verbrechen und ihre Aufarbeitung vor Gericht ein Thema. »Wegsperren, und zwar für immer«, hat angesichts eines pädophilen Täters sogar schon ein amtierender Bundeskanzler gefordert. Doch wie sehr sind wir eigentlich wirklich von Verbrechen bedroht – und kommen Straftäter vor deutschen Gerichten zu gut weg? Der Tübinger Kriminologie-Professor Jörg Kinzig hat darüber ein Buch geschrieben. Er analysiert, ordnet ein und kann dazu beitragen, mancher Debatte eine sachliche Basis zu geben und die Schärfe zu nehmen. Der GEA hat bei ihm nachgefragt.

GEA: Warum haben Sie das Buch geschrieben? Und für wen?

 

Jörg Kinzig: Ich fand es reizvoll, mich mit einem solchen Büchlein nicht an ein Fachpublikum, sondern an die breite Öffentlichkeit zu wenden. Mir erschien es auch deshalb an der Zeit, weil nicht nur die Medien immer wieder berichten, dass Bürger mit der Justiz nicht zufrieden seien. Da fühlte ich mich als vom Staat bezahlter Hochschullehrer in der Verantwortung, einiges zu Verbrechen und Strafe zu erklären.

Gefühlt wird das Leben für viele Menschen zunehmend unsicherer. Viele haben den Eindruck, dass zu wenig gegen Kriminalität unternommen wird. Ist das so?

Kinzig: Man muss die reale Kriminalität von der gefühlten Kriminalität unterscheiden. Schaut man in die Polizeiliche Kriminalstatistik, lässt sich erkennen, dass die Straftaten seit einiger Zeit zurückgehen und wir danach die geringste Kriminalität seit Jahrzehnten haben. Wobei die Polizeiliche Kriminalstatistik immer nur das sogenannte Hellfeld zeigt, also die Straftaten, die tatsächlich bekanntgeworden sind. Das Dunkelfeld aufzuhellen, gelingt dagegen nur zu einem Teil. Fragt man die Menschen, ob das Leben in den letzten Jahren unsicherer geworden ist, gibt es Hinweise, dass die Unsicherheit etwas angestiegen ist. Aber das würde ich nicht als dramatisch beurteilen.

Jörg Kinzig. Direktor des Instituts für Kriminologie Tübingen, sieht in allgemeiner Unsicherheit einen Grund für Kriminalitätsfu
Jörg Kinzig. Direktor des Instituts für Kriminologie Tübingen, sieht in allgemeiner Unsicherheit einen Grund für Kriminalitätsfurcht. FOTO: PR
Jörg Kinzig. Direktor des Instituts für Kriminologie Tübingen, sieht in allgemeiner Unsicherheit einen Grund für Kriminalitätsfurcht. FOTO: PR

Also ist entweder die Wahrnehmung falsch oder die Statistik. Kann es sein, dass manche Opfer Straftaten gar nicht anzeigen, weil sie sich nichts davon versprechen?

Kinzig: Diese Möglichkeit muss man selbstverständlich in Rechnung stellen. Doch gibt es keine Erkenntnisse, dass sich da etwas verändert hätte. Im Gegenteil: Wenn man die gestiegene Sensibilität der Bevölkerung gegenüber gewalttätigem Verhalten in Rechnung stellt, spricht das für eine gewachsene Anzeigebereitschaft. Denken Sie auch an die Verschärfungen im Sexualstrafrecht. Von daher würde ich vor allem bei der schweren Delinquenz nicht davon ausgehen, dass die Leute resigniert hätten.

Wie gut ist unser Rechtssystem? Sind Urteile in Strafprozessen nun zu lasch oder nicht?

Kinzig: Ich finde nach wie vor: Die Urteile sind nicht zu lasch. Ich verspreche mir nichts von einer zunehmenden Härte. Ich habe in dem Buch auch Rechenschaft abgelegt, zu welcher Zwischenbilanz ein Wissenschaftler kommt, der sich schon lange Jahre mit Strafrecht und Kriminologie beschäftigt. Da ist mein Glaube an die Wirkmächtigkeit hoher Strafen doch sehr begrenzt. Im Übrigen: Die Leute, die nach schärferen Strafen rufen, sind meist die Ersten, die sich beklagen, wenn sie sich selbst einmal, etwa wegen eines Verkehrsdelikts, einem Strafverfahren ausgesetzt sehen. Dann können die Strafen gar nicht milde genug ausfallen.

»Ich finde nach wie vor: Die Urteile sind nicht zu lasch«

 

 

Gibt es für die begrenzte Wirksamkeit drastischer Strafen Belege?

Kinzig:Es gibt regionale Unterschiede in der Bestrafung, sozusagen lokale Kulturen in einzelnen Landgerichtsbezirken. Vergleicht man die Bezirke bei der Kriminalitätsentwicklung, gibt es keine Hinweise, dass es helfen würde, härter zu strafen. Auch würde ein solcher Effekt ja immer voraussetzen, dass wir einen rational kalkulierenden Straftäter haben, der sich sagt: Oh, jetzt ist die Strafe erhöht worden, da lass ich mal lieber die Finger davon. Ähnlich ist das bei der Videoüberwachung oder der Fußfessel. Diese Maßnahmen mögen im Einzelfall funktionieren, aber sie können nicht durchwegs verhindern, dass sich Konflikte aufschaukeln und die Beteiligten dann nicht mehr an ihre Überwachung denken. Wenn man jemanden für drei Jahre in die Justizvollzugsanstalt Rottenburg schicken könnte und dann sicher wäre, dass ein geläuterter Mensch entlassen würde, der nie mehr Straftaten begeht, dann wäre Strafe wirksam. Aber so einfach ist es eben leider nicht.

Was sind die Ursachen der Kriminalitätsfurcht?

Kinzig: So ganz genau wissen wir das nicht. Man geht davon aus, dass sich in der Kriminalitätsfurcht eine allgemeine Unsicherheit spiegelt. Viele haben in den letzten Jahren das Gefühl, in einer unsicherer werdenden Gesellschaft zu leben. Das betrifft den Arbeitsplatz, die Digitalisierung oder politische Unwägbarkeiten. Auch US-Präsident Donald Trump und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sind durchaus geeignet, unser Vertrauen in Stabilität zu erschüttern. Das kann sich dann auch auf die Einschätzung von Kriminalitätsrisiken übertragen. Dazu kommen noch die sogenannten sozialen Medien, die teilweise versuchen, eine eigene – falsche – Wirklichkeit zu vermitteln. Und dann gibt es noch die Wirkung der Bilder. Wenn man sich eine Straftat im Internet anschauen kann, dann macht das schon was mit einem.

Jörg Kinzig: Noch im Namen des Volkes? Über Verbrechen und Strafe. 124 Seiten, 10 Euro, Orell Füssli Verlag, Zürich
Jörg Kinzig: Noch im Namen des Volkes? Über Verbrechen und Strafe. 124 Seiten, 10 Euro, Orell Füssli Verlag, Zürich Foto: Gea
Jörg Kinzig: Noch im Namen des Volkes? Über Verbrechen und Strafe. 124 Seiten, 10 Euro, Orell Füssli Verlag, Zürich
Foto: Gea

Und Frauen haben eher Angst als Männer und Ältere eher als jüngere …

Kinzig: Ja. Man spricht da auch vom Kriminalitätsparadox. Es fürchten sich gerade die, die nicht so sehr betroffen sind. Junge Männer sind die Gruppe, die sowohl bei den Tätern als auch bei den Opfern am häufigsten vertreten ist. Typischer Fall: Sie sind am Freitagabend unterwegs, dann wird getrunken, es gibt Konflikte und das endet dann mit einer Körperverletzung. Junge Männer müssten sich mehr fürchten, tun es aber nicht. Stattdessen trauen sich die älteren Menschen abends nicht mehr auf die Straße.

Ein Angstfaktor sind immer auch Sexualstraftaten. Es gab zuletzt mehr Anzeigen und mehr Urteile gegen Sexualstraftäter. Ist damit auch die Gefahr größer geworden?

Kinzig: Nein, dafür gibt es keine Belege. Ein Teil der Zunahme ist beispielsweise auf die Einführung des »Nein heißt Nein«-Prinzips zurückzuführen. Jetzt versucht man, in der neuesten Reform des Sexualstrafrechts, vor allem die Strafrahmen an der Untergrenze anzuheben. Angestrebt wird in jedem Fall eine Freiheitsstrafe. Die Strafrechtswissenschaft steht dieser Verschärfung ganz überwiegend skeptisch gegenüber. Die Experten befürchten, dass dadurch aus den Augen gerät, dass es tatsächlich auch leichte Fälle an der Grenze der Strafbarkeit gibt. Es wäre aber falsch, auch auf diese Vorkommnisse unterschiedslos mit Freiheitsstrafen zu reagieren. Unser Strafrecht beruht darauf, dass nicht jedes Verhalten gleich eine harte Strafe nach sich zieht. Wir differenzieren und schicken Menschen nur bei erheblichen Eingriffen ins Gefängnis. Daran würde ich festhalten wollen.

An einem Punkt in Ihrem Buch habe ich geschmunzelt. Sie schreiben, dass die Sendung »Aktenzeichen xy ungelöst«, auch Ihnen Angst macht. Echt jetzt?

Kinzig: Ihnen nicht?

Ich gucke erst gar nicht …

Kinzig: Ja, doch, ich bin da nach wie vor nicht frei davon. Die Wirkung hängt davon ab, wie stark man sich in die Rolle des Opfers versetzen kann. Ein Einbruch, der in eine Gewalttat mündet, wobei der Film suggeriert, dass man sich gar nicht erklären kann, warum die Täter gerade in dieses Haus eingebrochen sind, ist in der Lage, bei mir Ängste hervorzurufen. Was anderes ist es beispielsweise bei einem Mord im Rockermilieu. Das wäre für mich eher weiter weg.

In Zusammenhang mit der neuen Strafverfolgungsstatistik bemängelte Innenminister Thomas Strobl, dass zu viele Heranwachsende nach dem Jugendstrafrecht verurteilt werden. Er schlug vor, das zu ändern. Stimmen Sie ihm zu?

Kinzig: Da hätte ich jetzt beinahe gesagt, das ist ein Ladenhüter. Diese Forderung wird immer wieder mal vorgebracht. Die Fachleute raten aber einhellig davon ab. Teilweise wird sogar darüber diskutiert, die Heranwachsendenkategorie über das Alter von 20 Jahren hinaus zu verlängern. Die jungen Leute befinden sich in diesem Alter in einer schwierigen Umbruchsituation. Das Jugendgerichtsgesetz ermöglicht es, genau hinzuschauen, ob ein mutmaßlicher Täter als Jugendlicher oder schon als Erwachsener behandelt werden sollte. Damit machen wir seit Jahrzehnten gute Erfahrungen. Ich sehe keinen Grund, das infrage zu stellen. (GEA)

ZUR PERSON

Jörg Kinzig (57) ist Jurist und seit 2006 Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht der Tübinger Uni. Seit 2011 ist er Direktor des Instituts für Kriminologie und seit 2020 Vizepräsident der Kriminologischen Gesellschaft. (GEA)