TÜBINGEN. »Die große Gereiztheit« konstatierte der Tübinger Kommunikationswissenschaftler Bernhard Pörksen 2018 in der Gesellschaft. Seither ist es nicht besser geworden. Im Gegenteil: In den USA regiert Trump und kanzelt »befreundete« Regierungschefs vor laufenden Kameras ab. In Deutschland erstarken die politischen Ränder. Wie kommt man aus dieser Spirale einer sich offenbar unaufhaltsam zuspitzenden Polarisierung wieder raus? Müsste man sich nicht wieder mehr gegenseitig zuhören?
Ja, sagt Pörksen, aber so einfach ist das mit dem Zuhören eben nicht. Warum, das untersucht er in seinem neuen Buch »Zuhören« anhand verschiedener Konflikte und Krisen. Vom Missbrauchsskandal an der Odenwald-Schule über den Ukrainekrieg bis zur drohenden Klimakatastrophe reicht der Bogen. Mal gelingt es, dass Menschen mit zentralen Botschaften gehört werden. Oft genug jedoch auch nicht. Warum gelingt es im einen Fall, warum im anderen nicht? Die Antwort darauf könnte zentral sein, um künftigen Herausforderungen zu begegnen.
Buch und Termine
Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Sein Buch »Zuhören. Die Kunst, sich der Welt zu öffnen« ist im Hanser-Verlag erschienen (336 Seiten, 24 Euro). Veranstaltungen mit dem Autor zum Buch und der Kunst des Zuhörens sind unter anderem im DAI Heidelberg (4. April mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann), im Literaturhaus Stuttgart (8. April mit Autorin und Filmemacherin Doris Dörrie), in der Stadthalle Nürtingen (10. April mit dem Tübinger OB Boris Palmer) und im Tübinger Museum (Obere Säle am 5. Mai mit dem Journalisten Claus Kleber). (GEA)
GEA: Sie haben in »Die große Gereiztheit« die allgemeine Polarisierung thematisiert. In Ihrem Buch »Zuhören« geht es nun um die Lösung: Wir müssten uns gegenseitig wieder besser zuhören. Als Fazit kann man zusammenfassen: Das ist gar nicht so einfach. Warum nicht?
Bernhard Pörksen: Drei Gründe. Zum einen sind wir Menschen keine guten Zuhörer, prinzipiell nicht. Wir existieren im Kokon unserer Urteile und Vorurteile, suchen die Milieus von Gleichgesinnten. Zum anderen wird die öffentliche Welt lauter, immer lauter. Und es wird es schwerer, sich im umherwirbelnden Informationskonfetti zu orientieren; auch das verändert das Zuhören. Und schließlich erleben wir etwas, was ich die »Programmierung der Ungeduld« nenne: Im Silicon Valley arbeiten einige der intelligentesten Menschen daran, unsere Aufmerksamkeit zu fragmentieren und sie im Dienste der Werbeindustrie auszubeuten.
Ihr Appell lautet, wir müssten vom Ich-Ohr-Zuhören zum Du-Ohr-Zuhören kommen. Was verbirgt sich hinter diesem Konzept?
Pörksen: Das ist tatsächlich der geistige Kern, die Grundidee des Buches, nämlich die Unterscheidung von zwei Formen der Aufmerksamkeit. Das Ich-Ohr-Zuhören wird von der Frage regiert, ob mir das, was der andere sagt, gefällt, ob es mir selbst plausibel, angemessen und klug erscheint. Fakt ist: Hier hört man vor allem sich selbst, weil die eigenen Filter so mächtig sind, so dominant. Anders hingegen das Du-Ohr-Zuhören. Hier ist die Frage bestimmend: In welcher Welt ist das, was der andere mir sagt, wahr? Hier wendet man sich dem anderen wirklich zu. Kurz und knapp: Zuhören ist für mich ein anderes Wort für Offenheit.
»Kurz und knapp: Zuhören ist für mich ein anderes Wort für Offenheit«
Der größte Teil des Buches setzt sich mit konkreten Fällen auseinander. Dabei geht es oft darum, warum Zuhören scheitert. Beispiel Missbrauchsskandal an der Odenwaldschule: Fast zehn Jahre lang liegen die Fakten auf dem Tisch, aber niemand will sie hören. Wie kann so etwas sein?
Pörksen: Das ist eine der größten Merkwürdigkeiten der jüngeren Skandalgeschichte. Vielleicht nochmal kurz zu den Fakten: Es gab jahrzehntelangen Missbrauch an der umjubelten Odenwaldschule; Haupttäter war Gerold Becker, Lebensgefährte des Starpädagogen Hartmut von Hentig. Tatsache ist: Alles lag ziemlich offen da. Ab 1999 stand es sogar in der Zeitung, nämlich der »Frankfurter Rundschau«. Nur: Niemand interessierte sich wirklich für das Schicksal der Betroffenen. Ich nenne dieses Phänomen des Weghörens das Rätsel der wissenden Ignoranz.
Aber noch einmal: Wie ist das zu erklären?
Pörksen: Der Schlüssel ist die groteske, voraufklärerische, tief wissenschaftsfeindliche Verehrungsbereitschaft der reformpädagogischen Szene. Meine Formel: Je größer die Bewunderung, desto massiver die Blindheit. Und je gewagter die Selbstverherrlichung, je tollkühner die Heiligenlegende, desto unvorstellbarer scheint das, was geschieht, sobald der Lehrer die Tür zumacht. Man verklärte, befeuert von idealistischen Journalisten, die Odenwaldschule zum idealen Ort. Beschrieb den Täter und Schulleiter, in Wahrheit eine verkrachte Existenz, als Genie, bemühte – kein Scherz – wahlweise Vergleiche mit Sokrates, Rousseau, Christus. Nur nebenbei: Schon der Schulgründer Paul Geheeb ließ sich Paulus rufen.
»Meine Formel: Je größer die Bewunderung, desto massiver die Blindheit«
Ein ähnliches Phänomen auf einer viel globaleren Ebene: Was die Bedrohung der Erde durch den Klimawandel betrifft, liegen die Fakten auf dem Tisch. Und doch fühlen sich viele von dem Thema belästigt. Warum funktioniert Zuhören in diesem Fall nicht?
Pörksen: Die Klimakrise scheint mir als das perfekte Problem. Sie ist abstrakt, schleicht in kleinen Schritten dahin, braucht einerseits die wissenschaftliche Vermittlung, erscheint aber gleichzeitig extrem emotional, geht es doch um Verderben und Tod, das große Tabu. Und alle müssten – trotz letzter Rest-Unsicherheiten – sofort handeln, werden aber unter Umständen die Effekte dieses Handelns gar nicht mehr selbst erleben. Aber: Die Beschwörung der Aussichtslosigkeit wäre bloß fader Pessimismus. Ich versuche ja in diesem Buch herauszufinden: Wie geht geistige Offenheit? Wie wird man durchlässig? Und so habe ich manchen Menschen oft jahrelang zugehört, die etwas besitzen, was ich das ökologische Gehör nenne, ein Gespür für die Verwüstungen des Planeten.

Im Fall des Ukrainekriegs untersuchen Sie die Möglichkeiten des Sich-gegenseitig-Zuhörens unter Extrembedingungen. Zwei Seiten stehen in einem tödlichen Konflikt. Dennoch gab es auch hier zumindest Versuche, ein Zuhören auf der anderen Seite zu erreichen. Kann so etwas überhaupt gelingen?
Pörksen: Ich zeige all dies am Beispiel eines Unternehmers aus Kiew, der darum ringt, von seinem Vater gehört und verstanden zu werden. Dieser Vater lebt ihn Russland in einem Kloster und glaubt dem Sohn zunächst nicht einmal, dass wirklich Krieg ist. Was dann beginnt, ist ein Ringen darum, den Vater zu berühren. Und die Propagandamauern zum Einsturz zu bringen. Ja, Misha Katsurin scheitert. Und irgendwann sind Gewalt und Hass überall; das ist das Wesen des Krieges. Und doch: Wer diese Reise des Scheiterns verfolgt, wird besser verstehen, was wirkliches Zuhören ausmacht. Und wie man – vielleicht, manchmal – diejenigen eben doch noch erreicht, die man nicht mehr erreicht.
Aus dem Raster fällt auf den ersten Blick das Kapitel über die Entwicklung des Silicon Valley mit dem Aufstieg der Kommunikationsriesen Google, Facebook und Twitter beziehungsweise Alphabet, Meta und X. Warum war es Ihnen wichtig, diesen Fall dazuzunehmen?
Pörksen: Weil wir eine laufende Medienrevolution erleben: die Vernetzung der Welt, die vergleichbar ist mit der Erfindung der Schrift und des Buchdrucks. Und weil diese Revolution das Zuhören massiv prägt. Sehen Sie, früher war Information knapp, heute ist es Aufmerksamkeit. Einst war es schwer, öffentlich zu senden, heute ist es schwer, noch Gehör zu finden. Das heißt: Die Grammatik der Kommunikation wird neu geschrieben, gerade jetzt in diesem Moment. Es gibt ganz viel Rauschen, ganz viel Hetze, ganz viel Desinformation, Hass. Meine Frage ist: Wie könnte eine zivile Netzkommunikation aussehen, die echtes Miteinander-Reden und Einander-Zuhören fördert? Ich habe, um diese Frage zu beantworten, die ersten Online-Gemeinschaften der Welt studiert, war für mein Buch viele Jahre im Silicon Valley unterwegs.
Noch einmal zusammengefasst: Warum fällt es uns so schwer, uns gegenseitig wirklich zuzuhören? Fehlt es an der Bereitschaft zu akzeptieren, dass es auch andere Sichtweisen geben kann als die eigene? Oder sind wir zu sehr abgelenkt vom täglichen Aktualitäts-Geblubber?
Pörksen: Alles zusammen. Und das Ich-Ohr-Zuhören, das Gefangensein in der eigenen Weltsicht, ist die Normalität. Und doch gilt: Ohne das wirkliche Zuhören ist alles nichts. Ohne das Zuhören gibt es keine Entwicklung, kein Gespräch, keinen fruchtbaren Streit, keine Versöhnung.
»Ohne das Zuhören gibt es keine Entwicklung, kein Gespräch, keinen fruchtbaren Streit, keine Versöhnung.«
Anders gesagt: Was müsste sich in unserer Art, miteinander zu kommunizieren, ändern, damit wir wieder ins Gespräch kommen, anstatt uns in unseren jeweiligen Blasen einzuigeln?
Pörksen: Ich bin ein strikter Gegner der Rezept- und Ratgeber-Literatur. Denn eines scheint mir gewiss: Kommunikationsrezepte funktionieren nie. Und doch kann man ein paar Leitprinzipien formulieren, die jeder für sich selbst – passend zur eigenen Person und zur je besonderen Situation – ausarbeiten muss. Abschied nehmen vom Sofort-Bescheidwissertum, nicht zu rasch urteilen, das Zögern lernen, manchmal auch den Außenseitern zuhören – darum geht es. Dann gelingt, vielleicht, die Öffnung gegenüber der Welt mit ihrer Schönheit und ihrem Schrecken.
Zum Schluss doch noch ein kleiner Schlenker in die aktuelle Politik: Global betrachtet sind wir in Europa im Moment auf eine andere, verstörende Weise zum Zuhören verdammt, weil die Supermächte USA und Russland über unsere Köpfe hinweg verhandeln und entscheiden. Schockiert Sie das?
Pörksen: Ja, total. Denn wir erleben längst eine doppelte Zeitenwende. Zuerst der Angriffskrieg Russlands in der Ukraine, der bis heute andauert. Jetzt, nach dem erneuten Wahlsieg Donald Trumps, der Versuch des US-Präsidenten und seiner Getreuen, eine globale Allianz von Populisten aufzubauen, eine Internationale der Wütenden, die auf Zerstörung der bisherigen Ordnung aus sind. Was kann man tun? Zuhören, um in der Tiefe zu verstehen. Um Lücken der Freiheit und des klugen Engagements zu entdecken. Und um sich dann der Welt wieder engagiert zuzuwenden. (GEA)