TÜBINGEN. Was will Russland? Und was hilft der Ukraine? Darüber wird dieser Tage fieberhaft gerätselt. Politiker, Militärs und Journalisten bieten allerlei Erklärungsversuche und Lösungsvorschläge. Doch es gibt eine Berufsgruppe, die es eigentlich wissen müsste: die Friedens- und Konfliktforscher. Sie machen Ursachen für Kriege ausfindig und geben Handlungsempfehlungen für ein gewaltfreies Miteinander. Professor Thomas Diez ist einer von ihnen. An der Universität Tübingen lehrt er Politikwissenschaft. Im GEA-Gespräch analysiert er Russlands Krieg gegen die Ukraine.
GEA: Warum hat Putin die Ukraine angegriffen?
Thomas Diez: Die Nato dehnt sich gen Osten aus, Russland fühlt sich bedroht: Mit dieser Argumentation folgt Putin einer realistischen Denkweise. Derzufolge verfügt in der internationalen Politik niemand über ein Gewaltmonopol, es herrscht Anarchie. Darum wollen Staaten ihr Überleben sichern, indem sie ihre Macht ausbauen oder zumindest festigen – auch auf Kosten anderer Staaten. Diese anderen Staaten sehen sich in der Folge gezwungen, ihrerseits ihre Machtposition zu verteidigen. So schlittern die Kontrahenten in ein Sicherheitsdilemma: Verzichten sie auf Gegenwehr, werden sie überfallen. Rüsten sie auf, wertet der Gegner das als Offensive. Keiner vertraut dem andern, jeder sieht sich in Gefahr. Das setzt eine Rüstungsspirale in Gang. In dieser Situation befinden wir uns gerade. Das Sicherheitsdilemma ist ein systemisches Phänomen auf der zwischenstaatlichen Ebene. Zusätzlich muss man in die Staaten reinschauen: Das postsowjetische Russland hat über die Jahre hinweg einen autokratischen Staat, eine oligarchische Wirtschaft und ein nationalistisches Selbstverständnis aufgebaut. Beide – zwischenstaatliche Beziehungen und innerstaatliche Strukturen – schaffen ein Umfeld, das Krieg wahrscheinlich macht. Sie erklären aber nicht seinen tatsächlichen Ausbruch. Denn letztlich fällt die Entscheidung über Krieg und Frieden auf der individuellen Ebene. Warum hat Putin den Einmarsch angeordnet? Hier geht es weniger um handfeste, materielle Gründe, sondern vielmehr um Welt- und Selbstbilder. Das sind zwar soziale Konstrukte, aber auch eine starke Motivation.
Und was will Putin?
Diez: Im Westen gilt Politik als Ausgleich von Interessen und Werten. In Russland dagegen herrscht traditionell ein anderes Politikverständnis vor. Dort geht es um geopolitische Entwicklungen im Laufe der Geschichte: In Eurasien stehen sich große Machtblöcke gegenüber. Die Ukraine gehört historisch zu Russland und muss gegen westlich-liberale Kräfte verteidigt werden. In diesem Gefüge steht Russland die Rolle einer globalen Großmacht zu. Dass sein Land nach dem Ende des Ost-West-Konflikts zu einer Regionalmacht schrumpfte, empfindet Putin als Demütigung. Darum will er den alten Status wiederherstellen. Dabei geht es ihm nicht allein um Land und Macht, sondern auch um Anerkennung. Psychologen würden einen Widerspruch zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung diagnostizieren, den es zu überwinden gilt. Und zwar nicht, indem das eigene überhöhte Selbstbild runtergeschraubt, sondern indem es den Anderen aufgezwungen wird. Das geschieht durch hegemoniale Bestrebungen, etwa in der Eurasischen Wirtschaftsunion, aber auch durch kriegerische Konflikte.
Europa bekommt Energie, Russland Devisen. Hätte die wirtschaftliche Verflechtung den Krieg nicht verhindern müssen?
Diez: Handelsbeziehungen allein haben noch keinen Krieg gestoppt. Denn die Entscheidungsträger gewichten andere Faktoren wie historisches Erbe oder internationale Anerkennung teils höher als materiellen Wohlstand. Darum wurde nach dem Ende des Kalten Kriegs versucht, den Frieden institutionell abzusichern. Enge Verflechtungen in zahlreichen Handlungsfeldern wie Sicherheit, Wirtschaft und Klima sollten das Vertrauen stärken und die Kosten für einen Abbruch der Beziehungen für beide Seiten in die Höhe treiben. Allerdings gibt es bei der Einbindung Russlands in internationale Institutionen erhebliche Defizite. Das liegt zum einen daran, dass Einrichtungen wie die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die Welthandelsorganisation (WHO) oder das Pariser Klimaabkommen stark westlich geprägt sind. Zum anderen hat Russland kein wirkliches Interesse an einer Integration. Darum ist es nie zu einer intensiven Kooperation gekommen. Stattdessen beschränkt sich die wechselseitige Abhängigkeit auf Rohstoffe: Europa braucht Russlands Energie, Russland braucht Europas Geld. Das führt zu einem paradoxen Effekt: Der Handel verhindert den Krieg nicht, sondern finanziert ihn.
»Russland soll wiederals globale Großmacht anerkannt werden«
Verfehlen die Wirtschaftssanktionen des Westens gegen Russland also ihr Ziel?
Diez: Eingefrorene Vermögen und Einreiseverbote treffen Russland zwar hart, aber nicht hart genug. Die Europäische Union müsste die Energieimporte stoppen, sowohl zur Erhöhung des Drucks als auch aus moralischer Verpflichtung. Das hätte auch auf unsere Wirtschaft und privaten Haushalte erhebliche Auswirkungen. Deshalb benötigen wir ein Programm für sozialen Ausgleich, ähnlich wie bei den Corona-Maßnahmen.
Zusätzlich erhöht der Westen sein Abschreckungspotenzial. Ist das nicht ein Ritt auf der Rasierklinge?
Diez: Waffenlieferungen an die Ukraine und Truppenverlegungen an die EU-Ostgrenze sind kurzfristig richtig. Gleichzeitig muss der Westen aber seine diplomatischen Beziehungen zu Russland aufrechterhalten, signalisieren, dass er Waffen ausschließlich defensiv einsetzt, und sich offen zeigen für eine neue Sicherheitsordnung in Europa.
Wie könnte solch eine neue europäische Sicherheitsordnung aussehen?
Diez: Zwischen Russland und der EU sollte eine neutrale Übergangszone geschaffen werden. Für die Ukraine würde das bedeuten, dass sie weder der Nato noch – jedenfalls nicht mittelfristig – der EU beitritt. Die Ukraine erfüllt zurzeit sowieso nicht die Bedingungen, der Beitrittsstatus hätte vor allem symbolischen Wert. Ein Wirtschaftsprogramm zum Wiederaufbau würde ihr mehr helfen. Außerdem müsste Russland verstärkt in internationale Institutionen eingebunden werden – vor allem in solche, die auf beiderseitige Abrüstung zielen. So könnte Konfrontation übergehen in Kooperation.
Wie wahrscheinlich ist solch ein Szenario?
Diez: Das ist eine langfristige Perspektive. Mit Putin und seinem Regime wird das nicht klappen. Dafür bedarf es zuerst eines Wechsels an der politischen Spitze in Russland. Der muss von innen heraus erfolgen, durch Druck von Seiten der Oligarchen oder der Bevölkerung. Die werden womöglich aktiv, wenn die Wirtschaftssanktionen zu sehr schmerzen. Das kann aber dauern. Bis dahin, fürchte ich, werden sowohl der Westen als auch Russland auf Abschreckung durch Aufrüstung setzen und in Verhaltensweisen des Kalten Kriegs zurückfallen. (GEA)

ZUR PERSON
Thomas Diez ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Tübingen. Er erforscht, wie Beziehungen zwischen Staaten funktionieren. Besonders interessiert ihn die Europäische Union: wie sie in der Weltpolitik agiert, mit anderen Organisationen kooperiert und Konflikte beeinflusst. (mis)