STUTTGART/KIEW. In der Nähe der Front sei der alte Benzinkanister eines russischen Panzers gefunden worden, der nun den Klangkörper einer Gitarre bildet, erzählt Johanna Schmid. »Patronenhülsen zur Weiterverarbeitung wurden ebenfalls im Kriegsgebiet gesammelt«, berichtet die Kunsttherapeutin weiter. Sie erzeugen jetzt in einem selbst gebauten Schlagzeug Musik, jeder Schlag ein Ton. In dem Projekt Resistruments der Stuttgarter Hilfsorganisation Arthelps haben Musikerinnen und Musiker mit Kindern und Jugendlichen in der Ukraine aus alten Waffen und Kriegsschrott Instrumente gebaut. Daraus entstanden ist nicht nur ein außergewöhnliches Band-Projekt inmitten des Krieges, sondern auch ein vielfach ausgezeichnetes Musikvideo.
Mit einer Violine aus einem Raketenteil als Klangkörper, der Gitarre und einem aus alten Waffenteilen gebauten Cello haben 2023 Valeriia Yehorova, Vadym Korostil, Illia Borodinov und Artem Burbyha, die damals noch Jugendliche waren, eine Komposition des Violinisten Yury Revich eingespielt. Das Musikvideo unter dem Titel »Breaking the Silence« wurde in zerstörten Häusern gedreht und trägt die Botschaft des Projekts eindringlich nach außen: »Seht her: Wir leben hier, vergesst uns nicht«.
Projekt in Kiew
Das ist es auch, was Marina Graffunder am meisten antreibt. Die Lebenswirklichkeit der Menschen in der Ukraine. Zusammen mit ihrer Kollegin Johanna Schmid betreut sie unter anderem traumatisierte Kinder aus der Ukraine und anderen Krisengebieten in Stuttgart mit Kunstworkshops. Die Projektmanagerin hat den Eindruck, dass es in letzter Zeit stiller um die Menschen in der Ukraine geworden ist, obwohl deren Nöte und Probleme, die Gefahr in der sie leben, nicht geringer wurden. »Wir sehen unsere Mission darin, die Jugendlichen zu unterstützen und ihnen Hoffnung zu geben. Eine Musikerin aus dem Projekt hat uns gesagt, dass die Musik das einzige sei, das ihr noch Hoffnung gebe«, sagt Graffunder über das Projekt Resistruments. Deshalb sei die mediale Aufmerksamkeit auch so wichtig. Es ist eine Art Kampagne der Hilfsorganisation, um Spendengeld zu sammeln, erläutern Thomas und Yasemin Lupo, die Köpfe hinter Arthelps.
Das Projekt Resistruments war aber auch der Startschuss für ein viel größeres Projekt in der Ukraine, wo die Hilfsorganisation seit 2018 tätig ist. Derzeit arbeite Arthelps an einem Gelände samt vierstöckigem Gebäude in der Nähe von Kiew, das Zufluchtsort für traumatisierte Familien werden soll. "Wir haben viel mit verschleppten Kindern in der Ukraine zu tun. Was diese Kinder erleben mussten, ist unbeschreibbar. Eine Kunsttherapie kann helfen, das Erlebte zu verarbeiten.
Schwer für die Eltern auszuhalten
Und auch für die Eltern dieser Kinder ist das sehr, sehr schwer auszuhalten, wenn sie von den schlimmen, gewalttätigen und missbräuchlichen Taten, die ihren Kindern angetan wurden, erfahren", sagt Marina Graffunder. Sie ist Halb-Ukrainerin und Halb-Russin, wie sie erzählt, und war selbst zweimal in der Ukraine mit Arthelps. Auf das neue, rund 2.600 Quadratmeter große Gelände mit Platz für Workshops, Sport, gemeinsames Kochen und Therapien blickt sie hoffnungsvoll. "Die Menschen in der Ukraine bedanken sich jedes Mal, dass wir sie nicht vergessen haben. Alle Kolleginnen dort vor Ort sind für mich Heldinnen dieses Krieges, weil sie dort bleiben und auf ihre Art für die Zukunft des Landes kämpfen", sagt sie.
Es brauche daher Orte, an denen ganzheitlich und nachhaltig geholfen werden könne. Das ist es, was Arthelps anstoßen will und in diese Richtung hat sich die Organisation seit ihrer Gründung 2015 entwickelt. »Wir fokussieren uns mittlerweile auf das Coachen von unseren Partnern vor Ort und auf Kunsttherapien für traumatisierte Kinder und Jugendliche«, sagt Yasemin Lupo. Sie glaubt daran, dass auch in schwierigen Situationen kreatives Denken Lösungen aufzeigen kann und so auch den Menschen in der Ukraine nachhaltig geholfen werden kann.
Wie alles begann
»Auch bei den Instrumenten war unser Ansatz ein kreativer«, ergänzt Thomas Lupo. »Wir wollten aus etwas Negativem etwas Positives schaffen und wussten nicht, was dabei herauskommt. Es geht vielmehr um das Gestalten an sich und den Prozess. Wer ins Gestalten kommt, kann auch sein eigenes Leben gestalten und Perspektiven für sich schaffen, das wollen wir den Menschen beibringen.« Das sei wichtig, weil die Menschen dann wieder selbstständig würden, sagt er.
Angefangen hat Arthelps mit einem Design-Projekt für Kleidung in Brasilien, es gibt Projekte in Sri Lanka, im Irak, aber auch in Deutschland: Im Ahrtal etwa, oder an Brennpunktschulen, wo die Hilfsorganisation Workshops anbietet. Auch in Stuttgart finden regelmäßig Kunstworkshops für geflüchtete Kinder statt.
DIE HILFSORGANISATION
Arthelps wurde von Thomas und Yasemin Lupo gegründet. Die Organisation ist spendenbasiert und hat rund 15 Mitarbeitende in seinem Kernteam. Dazu kommen laut eigenen Angaben mehrere Hundert Ehrenamtliche, darunter Künstlerinnen und Künstler, Architekten, Designer und andere Menschen, die helfen wollen. In Stuttgart hat Arthelps zentral am Hauptbahnhof ein Büro in der Kriegsbergstraße 30, wo Workshops und Treffen stattfinden. Der Sitz befindet sich in der Nikolaus-straße 2 in Stuttgart. Infos wie man Arthelps unterstützen kann gibt es hier: www.arthelps.de. Auf Instagram kann man die Geschichte von Resistruments mit beteiligten Künstlern sowie weitere Projekte von Arthelps verfolgen. (GEA)
Der Kreativ-Ort nahe Kiew soll eine Art stabiles Zentrum der Arthelps-Hilfe vor Ort werden, von dem aus auch andere Bereiche der Ukraine zu erreichen sein sollen, »eine Art Satellit« sagt Thomas Lupo, der etwa alle zwei Monate selbst dort ist. Und das Resistruments-Projekt sei noch längst nicht abgeschlossen. 2025 sollen weitere Instrumente gebaut und weitere Künstler involviert werden, die darauf spielen.
»Wir sind da für euch«
Das Wichtigste für die Menschen in der Ukraine, aber auch in anderen Krisenregionen, ist, »dass sie nicht das Gefühl haben dürfen, aufgegeben zu werden. Wir müssen vermitteln, wir sind immer noch da für euch«, sagt Yasemin Lupo.
»Der Bedarf Dinge zu verarbeiten und voranzukommen, Perspektiven zu geben, der ist so groß. Es ist klar, dass wir uns von Spenden finanzieren, aber wir nutzen diese, um die Menschen weiterzubringen und nicht, um ihnen nur Materielles zu geben. Es bringt ihnen vielmehr, wenn sie sich wieder selbst um sich kümmern können, darin steckt die große Kraft unserer Arbeit«, ergänzt ihr Mann. (GEA)


