BERLIN. Kuhhandel oder Krimi? Am Ende eines mehrstündigen Sitzungsmarathons rund um den Tagesordnungspunkt »Zu-strombegrenzungsgesetz« konnten Beobachter sowohl dem einen wie auch dem anderen zustimmen. Eine immer wieder verlängerte Sitzungsunterbrechung, Pendeldiplomatie zwischen den Büros der Fraktionsvorsitzenden, angestrengte Gesichter und teils wüste Beschimpfungen sprachen für den Krimi. Der allerdings einen Ausgang ohne klaren Sieger hatte.
Hektische Beratungen
Es ist elf Uhr, als im Bundestag der »Zusatzpunkt 35« aufgerufen wird. Gemeint ist das »Zustrombegrenzungsgesetz«, die CDU/CSU will damit den Familiennachzug beenden und der Bundespolizei mehr Befugnisse einräumen. Doch zur Debatte kommt es erst einmal gar nicht. Unions-Fraktionsgeschäftsführer Thorsten Frei bittet um das Wort und, als Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) es ihm erteilt, um eine Sitzungsunterbrechung. Seine Fraktion habe Beratungsbedarf, erklärt der CDU-Politiker. Bas gibt dem Wunsch statt. Doch die Sitzungsunterbrechung dauert nicht, wie von Frei erbeten, 30 Minuten. Sie zieht sich über mehrere Stunden.
Dazwischen spielen sich denkwürdige Szenen ab. Die Fraktionen ziehen sich in ihre Räume zurück, die zwei Ebenen über dem Plenarsaal liegen. Immer wieder öffnen sich Türen, Unterhändler eilen über die Gänge. Es geht in den Verhandlungen auch um Inhalte. So sehen die Grünen beispielsweise beim Punkt »Familiennachzug«, der ohnehin auf 12.000 Menschen pro Jahr begrenzt ist, Verstöße gegen die Kinderrechtskonvention. Vor allem geht es aber darum, wie verhindert werden kann, dass die AfD erneut einem Unions-Antrag zur Mehrheit verhilft. Merz wechselt oft vom Fraktionssaal in sein Büro. Mal spricht er mit SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich, mal mit den Grünen, mal mit der FDP. Nach gut einer Stunde Sitzungsunterbrechung stellt Merz fest: SPD und Grüne wollen dem Gesetz seiner Fraktion keine Chance geben. Der CDU-Vorsitzende beschließt, das »Zustrombegrenzungsgesetz« wie geplant zur Abstimmung zu stellen. Eine Mehrheitsbeschaffung durch die AfD nimmt er in Kauf, ohne sie wird es nicht gehen. Denn die FDP will zwar zustimmen, es werden bei den Liberalen aber mindestens 15 kritische Stimmen gezählt. Weitere Stimmverweigerer muss Merz in den eigenen Reihen vermuten. Die Kritik von Altkanzlerin Angela Merkel (CDU) an Merz vom Vortag, die bundesweiten Demonstrationen gegen die CDU haben Spuren hinterlassen. Es ist Freitag, am Wochenende sind die Abgeordneten wieder in ihren Wahlkreisen. Weit weg von der Berliner Blase stellen sich den realen Sorgen und Nöten der Bürgerinnen und Bürger.
Grüne provozieren
Gut zwei Stunden nach der Sitzungsunterbrechung füllt sich der Sitzungssaal langsam wieder. Die Abgeordneten der AfD haben ihn ohnehin nicht verlassen, ihre Meinung ist bei den Beratungen nicht gefragt. Auf der Regierungsbank liegen Merkels Memoiren, das blau eingebundene Buch gehört Michael Kellner, der Grüne ist Staatssekretär im Wirtschaftsministerium seines Parteifreunds Robert Habeck. Zeit zur Lektüre ist durchaus vorhanden, denn die Hoffnung auf eine Sitzungsfortsetzung erfüllt sich nicht. SPD und FDP beraten erst mit Merz getrennt, gegen 13.15 Uhr sitzen alle beteiligten Fraktionsvorsitzenden zusammen. Auf dem Tisch liegt dabei auch ein Vorstoß der FDP. Sie schlägt SPD und Grünen vor, dass Liberale und Union dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) zustimmen, wenn Rot-Grün dafür im Gegenzug für das »Zustrombegrenzungsgesetz« votiert. Rund drei Stunden, nachdem Bärbel Bas die Sitzung unterbrochen hat, setzt Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne) sie fort. Die Union stellt das »Zustrombegrenzungsgesetz« zur Abstimmung, alle Bemühungen um einen Kompromiss sind gescheitert. Die anschließende Aussprache ist heftig, die Fronten sind verhärtet, das Motto lautet: Wir sind nicht schuld, die anderen sind es. Die Situation sei herbeigeführt worden, »durch eine Leichtfertigkeit, deren Zeugen wir am Mittwoch geworden sind«, erklärt etwa SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich. SPD und Grüne seien gesprächsbereit gewesen, Merz habe jedoch »mit dem Kopf durch die Wand« gewollt und unannehmbare Bedingungen gestellt. »Es ist nicht zu spät«, sagt der Fraktionschef in Richtung der Unions-Fraktion und ergänzt: »Der Sündenfall wird sie für immer begleiten. Aber das Tor zur Hölle können wir noch gemeinsam schließen.«
Eine Entschuldigung für das Szenario am Mittwoch liegt Merz fern. Der zur Abstimmung gestellte Antrag zur Eindämmung der illegalen Migration »ist und bleibt in der Sache richtig«, sagt er. Grüne und SPD hätten aus der Abstimmung »eine Zusammenarbeit mit der AfD konstruiert«, kritisiert der Spitzenkandidat und beteuert erneut: »Von meiner Partei aus reicht niemand der AfD die Hand. Niemand«.
Die Rolle als Spaltpilz ist für Merz nicht neu. Im Jahr 2000 – die SPD stellte damals wie heute den Kanzler – war der ambitionierte Konservative gerade Unionsfraktionschef geworden. »Es geht im Wesentlichen darum, dass die in Deutschland lebenden Ausländer bereit sind, sich einer deutschen Leitkultur anzuschließen«, rief er aus. Die Debatte über die »Leitkultur« trieb einen Keil in seine Partei. Knapp 25 Jahre später appelliert Merz an SPD und Grüne, dem »Zustrombegrenzungsgesetz« doch noch zuzustimmen. Man sei sich doch wohl darin einig, dass »der Zustrom« von Asylsuchenden begrenzt werden müsse, sagt er.
Sechseinhalb Stunden nach der Sitzungsunterbrechung liegt das Ergebnis der namentlichen Abstimmung vor. Der Bundestag lehnt das Gesetz ab. Das Ergebnis ist knapp: 338 Abgeordnete stimmen mit Ja, 350 mit Nein. 733 Sitze hat das Parlament, an der Abstimmung nehmen (inklusive Enthaltungen) nur 693 Parlamentarier teil.
Niemand hat gewonnen, niemand wirklich verloren. Praktische Auswirkungen hätte es das Gesetz ohnehin erst gehabt, wenn der Bundesrat zugestimmt hätte. Folgen für die gesellschaftliche Debatte jedoch wird es geben. Welche das sind, werden die nächsten Tage zeigen. (GEA)