GENF. »Was wir tun, betrifft jeden«, sagt Rosalnd Yarde selbstbewusst. Yarde leitet die Presseabteilung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Genf. Diese älteste aller Unterorganisationen der Vereinten Nationen (UN) feiert dieses Jahr ihr hundertjähriges Bestehen. Dennoch, das räumt auch Yarde ein, »wissen viele Bürger in der westlichen Welt wenig von der ILO und den Konventionen, die auch ihren Alltag betreffen«.
»Wir haben ein so großes Feld, das der Öffentlichkeit schwer zu vermitteln ist,« sagt Yarde. Andere UN-Organisationen hätten es da leichter, wie die Unicef, die Kindern hilft, oder das Flüchtlingshilfswerk UNHCR, das sich eben um Flüchtinge kümmert. Bei der ILO hingegen geht es unter anderem um Themen wie Arbeitszeiten, freie Wochenenden, gesunde Arbeitsplätze, Kinderarbeit, Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz oder Gleichberechtigung.
Konferenz von Versailles
Ein bisschen bekannter wird die ILO, der aktuell 187 Staaten als Mitglieder angehören, vielleicht durch ihr Jubiläum dieses Jahr. Die Mitarbeiter in der Genfer Zentrale sind ausdrücklich stolz darauf, dass zu ihrer Jubiläumskonferenz im Juni 35 Staatschefs kamen, unter anderem die »vier M« am gleichen Tag – Bundeskanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, die britische Premierministerin Theresa May und Russlands Regierungschef Dmitri Medwedew.
Gegründet wurde die ILO 1919 bei der Konferenz von Versailles, die den Ersten Weltkrieg beendete. Die Gründung folgte der Überzeugung, dass »ein universeller und andauernder Frieden nur erreicht werden kann, wenn er auf sozialer Gerechtigkeit basiert«, heißt es auf der Internetseite der ILO. Die Gründung geschah in einer Zeit fortschreitender Industrialisierung und der damit verbundenen Ausbeutung der Arbeiter. Außerdem wuchs das Bewusstsein für die weltweiten Abhängigkeiten und die Notwendigkeit für vergleichbare Arbeitsbedingungen in den Ländern, die auf dem Weltmarkt miteinander konkurrierten. Konkurrenz sollte nicht dadurch ausgetragen werden, dass Sicherheit und Arbeiterrechte unterboten wurden. Sie sollten überall einen gewissen Standard haben.
Die damals umstrittene Begrenzung der Arbeitszeit auf acht Stunden am Tag und höchstens 48 Stunden pro Woche sind heute in vielen Teilen der Welt Standard, freut sich die ILO.
Als praktisch einzige derartige Organisation hat die ILO sogar den Zweiten Weltkrieg überstanden und wurde danach, im Jahr 1946, zur ersten spezialisierten Unterorganisation der neu gegründeten Vereinten Nationen. Ihre Hauptthemen zu dieser Zeit waren Versammlungs- und Organisationsfreiheit sowie der Kampf gegen Diskriminierung sowie Kinder- und Zwangsarbeit. 1969 wurde die ILO zu ihrem 50. Geburtstag mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
Argumente statt Sanktionen
Die Internationale Arbeitsorganisation legt großen Wert auf den »sozialen Dialog«, die Zusammenarbeit von Regierungen, Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Alle drei Parteien haben bei der ILO deshalb den gleichen Stellenwert, und alle drei müssen jeweils in den entsprechenden nationalen Delegationen vertreten sein. Diese »Dreiparteilichkeit« gehört zu den Besonderheiten der ILO.
Die UN-Organisation kann gegen ihre Mitglieder, also einzelne Länder, keine Sanktionen verhängen, wenn sie sich nicht an vereinbarte Konventionen und Standards halten. »Wir diskutieren und setzen auf Argumente«, sagt eine Mitarbeiterin in der Genfer Zentrale. Manchmal dauere es sehr lange, etwas durchzusetzen, aber die letzte Entscheidung liege nun einmal bei den einzelnen Staaten. »Wir müssen mit allen reden. Alles ist relativ, das lernt man in einer internationalen Organisation wie der ILO.«
Bei etwa 40 Mitgliedsstaaten gab es Zweifel, ob sie sich auch an die Konventionen der ILO hielten, erzählt man. 24 davon seien intensiver diskutiert worden. Die ILO-Inspekteure in den einzelnen Staaten gingen aber diplomatisch vor, betont später Martin Ostermeier von der Genfer ILO-Zentrale. Niemand solle schließlich sein Gesicht verlieren. Die UN-Organisation arbeite »mit sanftem Druck«.
Ein konkretes Beispiel, das in Genf bei diesem Thema genannt wird, ist Katar, das anlässlich der bevorstehenden Fußball-Weltmeisterschaft 2022 wegen seiner miserablen Arbeitsbedingungen weltweit in Verruf geriet. Das habe »Wind in die Segel der ILO gepustet«, heißt es auf den Fluren in Genf. Katar habe Image-Probleme bekommen und deshalb Inspekteure zur technischen Assistenz bei der ILO angefordert. Eine Spende des Emirates an die ILO soll es obendrein gegeben haben.
Die ILO versucht auch, Diskussionen über die weltweiten Entwicklungen der Arbeit anzustoßen. Vier Megatrends haben die Genfer Forscher da ausgemacht. Sie betreffen die Bevölkerungsentwicklung, den Klimawandel, die Digitalisierung und die Geschlechtergleichheit, sagt Ekkehard Ernst von der Forschungsabteilung der ILO. Die damit zusammenhängenden Fragen sind vielfältig.
Nur sanfter Druck
Wie sollten Aus- und Fortbildung weiterentwickelt werden? Wie soll man darauf reagieren, dass Gewerkschaften selbst in Kontinentaleuropa nicht mehr so repräsentativ sind wie früher? Was hat es für Folgen, dass im Zuge der Digitalisierung die Ungleichheiten am Arbeitsmarkt zwischen gut und schlecht Ausgebildeten immer extremer werden? Welche Folgen hat die Zunahme der Plattformökonomie, die im Zuge der weltweiten Digitalisierung immer mehr um sich greift? Mit solchen Themen beschäftigen sich die Experten der Internationalen Arbeitsorganisation in Genf.
In einzelnen Ländern hilft die ILO auch ganz direkt, die Arbeitsbedingungen zu verbessern. In Bangladesch beispielsweise, das wegen seiner gefährlichen Arbeitsbedingungen weltweit berüchtigt war, hat die UN-Organisation die Regierung beraten, um das Arbeitsrecht zu reformieren und die staatlichen Arbeitsinspektoren zu schulen. »Wir helfen, eine Sicherheitskultur zu schaffen«, heißt es bei der ILO in der Hauptstadt Dhaka. (GEA)