STUTTGART. Roman Jung war bestürzt, als er im Frühjahr die Nachricht hörte: Ein junger Geflüchteter aus dem Senegal, den er unter seine Fittiche genommen hatte, war nach einem Sprung in den Bodensee nicht wieder aufgetaucht. Zwar konnte der 23-Jährige schwimmen, wie sich später herausstellen sollte, dennoch rief sein tragischer Tod Roman Jung einen bedenklichen Missstand erneut ins Gedächtnis: Viele Kinder und Jugendliche aus finanzschwachen Familien sind Nichtschwimmer. Nach Angaben der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG) kann fast die Hälfte der Kinder aus Haushalten mit einem monatlichen Nettoeinkommen unter 2.500 Euro nicht schwimmen. In Haushalten mit 4.000 Euro Nettoeinkommen und mehr sind es nur rund 12 Prozent. Insgesamt hat sich die Zahl der Grundschulkinder, die nicht schwimmen können, laut DLRG zwischen 2017 und 2022 bundesweit verdoppelt.
Rabattierte Schwimmkurse
Roman Jung setzt sich schon seit Jahren für Familien mit wenig Einkommen ein. 2017 gründete er den gemeinnützigen Verein Children First, der Kinderarmut zu mildern, aber auch Gewalt vorzubeugen versucht, indem er Sport und Bildung fördert – wie im Fall des verstorbenen 23-Jährigen, dem Jung Nachhilfe in Mathe gegeben und den er zum Fußballspielen animiert hatte.
Zur Sportförderung gehören seit etwa zwei Jahren auch vergünstigte Plätze in Schwimmkursen, die Children First an von Armut betroffene Familien vermittelt. In dieser Angelegenheit kooperiert der Verein mit dem Gottlieb-Daimler-Gymnasium in Bad Cannstatt und dem Schwimmverein Cannstatt. So bekommen pro Quartal fünf Kinder des Gymnasiums die Möglichkeit, für 30 statt für 110 Euro einen Schwimmkurs zu besuchen. Die 80 Euro Differenz setzen sich dabei aus 50 Euro, die über die sogenannte Bonuscard für finanziell eingeschränkte Menschen von der Stadt Stuttgart kommen, und 30 weiteren Euro, die der SV Cannstatt jedem Kind erlässt, zusammen.
Lutz Arnold vom Cannstatter Gottlieb-Daimler-Gymnasium ist froh über die Zusammenarbeit. »Viele Familien haben ganz andere Probleme als das Schwimmen«, sagt der Sport- und Chemielehrer. Auch der kulturelle Hintergrund spiele eine Rolle. »Je nach kulturellem Background ist das Schwimmen keine so wichtige Sache«, sagt Arnold. Dazu kommen die Kinder, für die der Kontakt mit Wasser angstbesetzt ist, weil sie auf der Flucht nach Deutschland traumatische Erfahrungen auf dem Mittelmeer gemacht haben.
Sind nicht eigentlich die Schulen in der Pflicht, den Kindern das Schwimmen beizubringen? Der Bildungsplan des Landes Baden-Württemberg sieht vor, dass Kinder zum Ende der Grundschule sicher schwimmen können sollen. Doch Anspruch und Wirklichkeit gehen auseinander: Bei etwa 60 Prozent der Kinder wird das Ziel nicht erreicht. An jeder fünften Grundschule im Land findet kein Schwimmunterricht statt.
Neues Bad für SV Cannstatt
Warum das so ist, weiß Sportlehrer Arnold nur zu gut: Es gibt insgesamt zu wenig Schwimmbäder. Die Distanzen zwischen Schulen und Schwimmbädern sind oft groß. Zum Schillerbad, wo er manchmal unterrichtet, sind es 30 Minuten Fußweg. Die Zeit zum Umziehen und Duschen abgezogen, bleibt nur noch wenig Zeit im Wasser. Wenn dann noch fünf von 20 Jugendlichen nicht schwimmen können – keine Seltenheit – wird es für Arnold schwierig, allen gerecht zu werden.
»Bevor es mit dem Schwimmunterricht losgeht, ist es ratsam, zumindest einmal in Kontakt mit Wasser gewesen zu sein«, sagt Arnold. In dem Bestreben, möglichst viele der Nichtschwimmer zu einem Kurs oder zumindest einem Schwimmbadbesuch im Vorfeld des Schulunterrichts zu bewegen, kontaktiert die Schule mittlerweile alle Eltern vorab, sensibilisiert sie für das Thema und macht auf das Angebot von Children First aufmerksam. »Es ist eine Gefahr für die Kinder, wenn sie nicht schwimmen können«, betont Arnold. Immerhin beim SV Cannstatt gibt es Positives zu vermelden: »Wir dürfen ein neues Lehrschwimmbad bauen«, freut sich Geschäftsführerin Sonja Carle. Dafür gewährt der Gemeinderat einen Baukostenzuschuss in Höhe von 8,7 Millionen Euro für das Vorhaben auf dem Mombach-Gelände. (GEA)