REUTLINGEN. Social Scoring ist so gefährlich wie das Ozonloch. Nichts zu sehen, nichts zu riechen, nichts zu hören – aber die Auswirkungen sind verheerend. Der Mensch wird mit allen über ihn in der digitalisierten Welt verfügbaren Daten eingeordnet und bewertet, sein zukünftiges Verhalten vorhergesagt. Was das bedeutet, lässt sich schon heute in China beobachten. Es lohnt sich, genau hinzuschauen.
Das in China geplante staatliche »Sozial-Kredit-System« soll nicht nur die Kreditwürdigkeit jedes Bürgers bewerten, sondern ebenfalls viele weitere Aspekte des Verhaltens. Wer häufig bei Rot über die Ampel geht, zu lange an seinem Smartphone spielt, ungesunde Lebensmittel kauft oder nach regimekritischen Seiten im Internet sucht, wird mit einem niedrigen Scorewert bestraft. Dann dürfen etwa seine Kinder nicht mehr in bessere Schulen gehen, kann er seine berufliche Karriere vergessen und so weiter und so fort. All das scheint weit weg, ist aber dennoch ein Problem für uns. Weil Verfahren des Social Scoring auch hierzulande wirtschaftlich verlockend erscheinen. Wer das Prinzip verstanden hat, ist einen Schritt weiter.
Je mehr Daten, desto besser
»Social Scoring bedeutet, möglichst viel aus möglichst vielen Bereichen über eine Person zu erfahren. Je mehr Daten, umso besser«, beschreibt der baden-württembergische Landesbeauftragte für den Datenschutz, Dr. Stefan Brink, das Verfahren. Um sich vorzustellen, was den Datensammlern schmeckt, reicht ein Blick auf die Mehrheit der Android-Smartphones. In den Standardeinstellungen kriegen Google und Co. mit, was mit dem Gerät gemacht wird: wie oft wir was nutzen, wonach wir suchen, wo wir uns bewegen. Populäre Apps wie Facebook oder Whats-App sammeln ebenfalls Daten, um nur zwei weitere Beispiele zu nennen. Doch niemand weiß so genau, was da eigentlich über ihn zusammengetragen wird und wer sich wie daraus eine Bewertung zusammenbastelt. »Die Intransparenz bei Social Scoring beruht darauf, dass in der Fülle der Daten der Blick darauf verloren geht, was eigentlich gesammelt wird«, sagt Brink. Jenseits dessen ist schon die Denkweise hinter dem Social Scoring erschreckend.
Keine Geheimnisse mehr
»Menschen werden nicht mehr als Individuen betrachtet, sondern als Daten-Double. Eine Konstruktion, die einen Menschen in die Summe seiner Daten auflöst«, erklärt Dr. Jessica Heesen als Leiterin des Forschungsschwerpunkts Medien- und Informationsethik an der Universität Tübingen. Ihr Kollege Dr. Thilo Hagendorff ergänzt: »Man geht davon aus, dass Daten Wirklichkeit abbilden, das ist aber nicht so«. Auch Datenschützer Brink hat eine klare Meinung: »Ich finde, Social Scoring beruht auf einer ganz grundlegenden Fehlentscheidung, und deswegen halte ich nichts davon. Nämlich auf der Idee, man könnte Menschen umfassend erfassen. Man könnte ihre Persönlichkeit so komplett abbilden, dass der Mensch wie ein offenes Buch ist, dass der Mensch keine Geheimnisse mehr hat, er vollständig wirtschaftlich verwertbar und dann möglicherweise auch politisch steuerbar ist. Das ist schon vom Grundgedanken her ein offensichtlicher Verstoß gegen das Menschenbild, das uns mitgegeben ist, das unserer Verfassung, die die Würde des Menschen schützt.« Nur wenige Beispiele machen deutlich, wie schnell jeder in einen völlig falschen Topf geworfen werden könnte.
Wer den Suchbegriff »Hitler« eingibt, könnte ein Neonazi sein oder aber genau das Gegenteil. Wenn auf seinem Rechner viele Computerspiele für Datenverkehr sorgen, mag das ein Hinweis auf Suchtverhalten sein, möglicherweise stecken dahinter aber eher seine Kinder. Der Wohnort mit vielen säumigen Schuldnern in der Nachbarschaft sagt eigentlich gar nichts über die Kreditwürdigkeit aus. »Es können falsche Zuordnungen entstehen. Wir werden nicht entsprechend unserer Person und Leistung beurteilt«, macht die Tübinger Medienethikerin Dr. Jessica Heesen deutlich. Müssen wir uns in Deutschland vor einem »Sozial-Kredit-System« wie in China fürchten?
Wer die Datenkraken sind
»Technisch denkbar wäre das, aber rechtlich komplett ausgeschlossen. Das ist so offensichtlich rücksichtslos und bürgerrechtsfeindlich, was da in China passiert. Das ist ein abschreckendes Beispiel«, gibt Landesdatenschützer Dr. Stefan Brink Entwarnung. Der Rechtsstaat sei eben keine Datenkrake, er dürfe nur dann Daten sammeln und auswerten, wenn er dazu eine gesetzliche Grundlage hat. Der Staat sammelt immer gezielt. Das unterscheidet ihn von wirtschaftlich getriebenen Datensammlern, die einfach mal alles probieren.
Die Jäger und Sammler der digitalen Neuzeit sind meist amerikanische Konzerne, die ihre Fährten fast überall im Internet ausgelegt haben. »Das Problem ist, das Strukturen wie Google monopolartig sind«, meint Jessica Heesen. »Im Durchschnitt geben neun von zehn Webseiten Nutzerdaten an Dritte weiter«, beschreibt Thilo Hagendorff die unsichtbaren Formen der Datensammelei. Verfahren des Social Scoring sind längst ein Thema in der Privatwirtschaft. »Na klar, wir sind in einem Übergang, und wir müssen versuchen das Ganze so zu steuern, dass es sich in einem erträglichen Rahmen bewegt«, betont Datenschützer Brink. Eine GEA-Anfrage bei lokalen Banken und der Versicherungswirtschaft ergibt recht kurze Antworten.
So sagt etwa Andreas Lehmann als Pressesprecher der Kreissparkasse Reutlingen: »Social Scoring im Kontext einer Überwachung von Bürgern (oder in unserem Fall Kunden), wie derzeit häufiger aus China berichtet wird, gibt es bei der Kreissparkasse nicht.« Eine Sprecherin der Commerzbank in Stuttgart, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, betont: »Social Scoring wird in der Commerzbank nicht eingesetzt und es gibt derzeit auch keine Pläne für den Einsatz eines solchen Verfahrens.« Christian Ponzel vom Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft gibt lediglich zu Protokoll, »wir wissen, dass Unternehmen in bestimmten Fällen Scorewerte bei (unterschiedlichen) Auskunfteien abfragen, um die Bonität eines Kunden beurteilen zu können«. Klar ist laut einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung der Beratungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers vom Mai 2018 mit dem Titel »Ist Deutschland bereit für Social Scoring?« eines: Verbraucher nehmen Social Scoring als Risiko wahr. (GEA)