BERLIN. Corona hat Narben hinterlassen: Alte sind einsam in Pflegeheimen gestorben, Junge trafen keine Schulfreunde, Ungeimpfte verzichteten aufs Restaurant. Mit den Einschränkungen rettete die Politik vielen das Leben, anderen machte sie das Leben schwer. Manche Maßnahmen erwiesen sich als wirksam und angemessen, andere nicht. Was hat Deutschland aus Corona gelernt? Sind wir auf die nächste Pandemie vorbereitet? Wo gibt es Nachholbedarf? Die wichtigsten Fragen und Antworten im Überblick.
Wurde Corona aufgearbeitet?
Corona hat der Gesellschaft Opfer abverlangt. Um Leben zu retten, hat die Politik Grundrechte eingeschränkt. Schulschließungen, Besuchsverbote, Ausgangssperren: Viele Maßnahmen waren umstritten. Trotzdem blieb die Aufarbeitung bisher aus. Einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss sagte die Ampel-Koalition ab. Der Grund: In dieser Wahlperiode bleibe keine Zeit mehr.
Was wird die nächste Pandemie?
Dass die nächste Pandemie kommt, steht für viele Wissenschaftler fest. SARS-CoV-3, Vogelgrippe, Masern, Pocken: Die Liste möglicher Kandidaten ist lang. Schuld sind Globalisierung und Klimawandel: Beide begünstigen die Ausbreitung von Infektionskrankheiten. Ebenso intensive Landwirtschaft und Vordringen in natürliche Lebensräume: Sie führen zur Übertragung von Krankheiten zwischen Tier und Mensch. Auch SARS-CoV-2 war eine solche Zoonose.
Darum mahnt Christian Drosten, Virologe an der Berliner Charité, zur besseren Überwachung von Erregern bei Nutz- und Wildtieren. Zwar gebe es weltweit Programme. Aber: »Die sind im globalen Süden schwächer ausgeprägt.« Entsprechend fordert Drosten: »Da müsste man unbedingt investieren.«
Wer ist gefährdet?
Wer infiziert sich? Welcher Verlauf ist schwer? Schützt die Impfung? Die Antworten auf diese Fragen erleichtern eine zielgenaue Pandemiepolitik. Für solche Daten musste Deutschland sich in den Corona-Jahren jedoch größtenteils auf ausländische Studien stützen. Hierzulande erschwert der Datenschutz die Beschaffung und Auswertung von Informationen. »Wir stehen uns selber im Weg«, sagt Pneumologe Tobias Welte von der Medizinischen Hochschule Hannover. »Wir benötigen eine Diskussion: Wie viel Datenschutz brauchen und wollen wir in welcher Situation?«
Hinzu kommt die Unterfinanzierung der klinischen Forschung in Deutschland. In anderen Ländern wie England fließt mehr Geld in Universitätskliniken. Der Vorteil: Dort werden die Erkenntnisse direkt an den Patientenbetten gewonnen. Bei der Labor-Diagnostik dagegen sieht Drosten Deutschland gut aufgestellt. Das sei ein Erfolgsfaktor bei der Eindämmung der Corona-Pandemie gewesen. »Wir haben unsere ersten Fälle im Labor bemerkt und nicht auf der Intensivstation«, erinnert sich Drosten.
Wie ist die Infektionslage?
Die Infektionslage wird in Deutschland nur lückenhaft erfasst. Zwar melden Arztpraxen dem Robert Koch-Institut Erkrankungen der Atemwege. Aber an dem Programm nehmen zu wenige Praxen teil. »Das führt dazu, dass wir keine regionale Abbildung des Geschehens haben«, kritisiert Epidemiologin Berit Lange vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung.
Allerdings hat ein anderes Frühwarnsystem sich bewährt: nämlich das Abwassermonitoring. In ausgewählten Klärwerken werden Viren und Bakterien nachgewiesen. »Wir haben eine sorgfältige Beprobung an vielen Standorten«, sagt Molekularbiologe Emanuel Wyler, der am Max Delbrück-Center in Berlin an der Analyse beteiligt ist. »Es fehlt aber, dass das alles systematisch zusammengetragen und verglichen wird.«
Was stoppt die Pandemie?
Epidemiologin Lange untersucht, wie Infektionen sich ausbreiten und wie Gegenmaßnahmen sich auswirken. Dazu nutzt sie bekannte Daten, erstellt Modelle und macht Vorhersagen. Langes Arbeitgeber, das Helmholtz-Zentrum, ist Teil eines Netzwerks, zu dem etliche Forschungsverbünde gehören. Das Ziel der gemeinsamen Anstrengung beschreibt Lange mit einem Beispiel: »Wir wollen sagen können: Wenn diese oder jene Maßnahmen eingeführt werden, dann ist es wahrscheinlich, dass in anderthalb Jahren eine RSV-Welle hoch verläuft. Darauf müssten sich die Kinderkliniken dann einstellen.«
Gibt es genug Schutzausrüstung?
Zu Beginn der Pandemie wurde die »Nationale Reserve Gesundheitsschutz« beschlossen. Schutzausrüstung, Medizinprodukte und Medikamente sollten zentral eingelagert werden. So wollte man Lieferengpässe vermeiden. Viereinhalb Jahre später steht das Projekt noch am Anfang. Zwar sind mehrere Hundert Millionen FFP-2-Masken bevorratet. Für Schutzanzüge müssen die Einrichtungen – Kliniken, Technisches Hilfswerk und ähnliche – aber selbst sorgen. Impfstoffe gegen bekannte Erreger werden laufend beschafft. Doch was ist mit neuen Erregern? Ein Grund für das unkoordinierte Vorgehen ist, dass Infektionsschutz in die Zuständigkeit der Länder fällt.
Wie schnell ist Impfstoff verfügbar?
Dass Corona nicht noch größeren Schaden angerichtet hat, ist auch der schnellen Verfügbarkeit wirksamer Impfstoffe zu verdanken. »Es war Glück, dass die Entwicklung der mRNA-Technologie so weit vorangeschritten war«, sagt Molekularbiologe Wyler vom Max-Delbrück-Centrum. Eigentlich sollte die Technologie Krebs heilen, dann wehrte sie Covid ab. Der Vorteil: Das Vakzin lässt sich rasch anpassen an einen neuen Erreger – vorausgesetzt, man weiß, gegen welche Struktur es sich richten soll. Das ist aber oft nicht bekannt.
Einen weiteren Pluspunkt sieht Philipp Wiesener. Er ist beim Deutschen Roten Kreuz für nationales Krisenmanagement und gesundheitlichen Bevölkerungsschutz zuständig. »Während der Corona-Pandemie hat man gelernt, innerhalb kurzer Zeit Impfzentren hochzuziehen und große Bevölkerungsgruppen zu impfen«, lobt er. »Darauf kann man beim nächsten Mal zurückgreifen.«
Wie viele Menschen lassen sich impfen?
Viele Menschen sind skeptisch. Ein Fünftel der Deutschen war ohne Impfung, als die Weltgesundheitsorganisation den Corona-Notstand im Mai 2023 aufhob. Etlichen fehlt auch das Vertrauen in zukünftige Maßnahmen. Laut einer Studie der Universität Erfurt Ende 2022 will ein Drittel der Befragten bei der nächsten Pandemie bei Schutzvorkehrungen nicht mehr mitmachen.
Wie gut sind die Kliniken vorbereitet?
Entscheidend bei der nächsten Pandemie wird auch sein, ob die Kliniken auf den Ansturm vorbereitet sind. »Eine Versorgung in Gesundheitskrisen funktioniert nur dann gut, wenn die Krankenhäuser auch im Normalzustand gut funktionieren«, sagt Christian Karagiannidis, der als Intensivmediziner an der Lungenklinik Köln-Merheim arbeitet. »Das haben wir momentan nicht in der Form, in der wir es bräuchten.« Eine Reserve an freien Betten für unvorhergesehene Ereignisse gibt es nicht. Von den rund 1.900 Krankenhäusern in Deutschland hätten während der Corona-Pandemie nicht einmal 500 Kliniken die Hauptlast der Corona-Patienten getragen. »Der Rest hat nur wenig an der Versorgung teilgenommen.«
Damit das in Zukunft besser wird, müssen laut Karagiannidis mehr Kliniken ein Minimum an Intensivbetten mit Beatmungsgerät und Herzkatheter sowie einen Hubschrauberlandeplatz haben. Das erfordere jedoch die Zusammenlegung – sprich: Schließung – kleiner Standorte. »Damit tun sich die Leute unfassbar schwer«, meint Karagiannidis.
Ein weiteres Problem: Das Pflegepersonal wird älter und geht in den kommenden Jahren in Rente. Die Leerstellen können nicht neu besetzt werden, warnt die Krankenkasse DAK. Dafür fehlt der Nachwuchs. Ein »Kipppunkt der Pflege« droht.
Wer entscheidet, was gemacht wird?
Während der Corona-Pandemie folgten Politiker vor allem dem Rat von Virologen und Modellierern. Kaum Gehör fanden dagegen Mediziner anderer Fachrichtungen. So führten die Pandemieregeln etwa zum Rückgang der Untersuchungen zur Früherkennung von Krebs. Auch Psychologen, Soziologen und Wirtschaftswissenschaftler kamen nicht recht zum Zug. Als womöglich überzogen stellten sich im Nachhinein etwa die Schulschließungen heraus. Denn Jüngeren konnte das Virus wenig anhaben. Dagegen verstärkte der Heimunterricht soziale und psychische Probleme. Infektionsschutz und gesellschaftliche Teilhabe seien »nicht zusammen gedacht« worden, kritisiert der Kinder- und Jugendpsychologe Julian Schmitz.
Bei der nächsten Pandemie wird die Politik zwischen verschiedenen Interessen besser abwägen müssen. (GEA)