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Aktuell Bundestagswahl

Scholz in Esslingen: Olaf menschelt

Der Kanzler tourt durch Deutschland. In Esslingen zeigt er sich nahbar und besonnen. Der arbeitenden Mitte gibt er ein Versprechen.

Kanzler Olaf Scholz (SPD) spricht bei einer Wahlveranstaltung in Esslingen mit Bürgern.
Kanzler Olaf Scholz (SPD) spricht bei einer Wahlveranstaltung in Esslingen mit Bürgern. Foto: Marijan Murat/dpa/dpa
Kanzler Olaf Scholz (SPD) spricht bei einer Wahlveranstaltung in Esslingen mit Bürgern.
Foto: Marijan Murat/dpa/dpa

ESSLINGEN. »Der Kanzler kommt«: Mit diesem Schlachtruf zieht die SPD in den Wahlkampf. Erklärtes Ziel: Olaf Scholz ist Kanzler und soll Kanzler bleiben. Dafür tourt er durch Deutschland, tritt in allen Bundesländern auf, macht Halt auch in Esslingen. Dort steht das Neckar Forum, der futuristische Glasbau ragt wie ein Zacken in den Himmel, die Halle ist in rotes Licht getaucht. Drinnen warten 500 Bürger, bereit für eine Zukunft mit Scholz.

Scholz hat Rückenwind: Das AfD-Votum für den Unions-Plan zur Asylwende könnte der SPD jetzt denselben Schub verleihen wie einst das Hochwasser Gerhard Schröder oder Fukushima den Grünen: Beide Katastrophen retteten die Wahlkämpfer aus dem Umfragetief. Auch diesmal nutzt die SPD ihre Chance und wettert gegen den politischen Gegner: »Merz hat sein Wort gebrochen«, schimpft Scholz. »Ich kann ihm nicht mehr trauen.« Kurz: Merz ist moralisch bankrott.

Bollwerk gegen Rechtsruck

Anders die SPD: Sie feiert sich als Hüter von Grundgesetz, Demokratie und Rechtsstaat, als Bollwerk gegen den drohenden Rechtsruck. Dazu hat sie alles Recht und die Geschichte auf ihrer Seite: Schließlich wurde die Partei im Dritten Reich verboten und verfolgt, ihre Mitglieder wurden in Konzentrationslager gesteckt und ermordet.

Die Taktik geht auf: Lange verharrte die SPD bei der Sonntagsfrage wie eingemauert bei 15 Prozent. Bis zum Migrationsstreit im Bundestag: Der katapultierte die Sozialdemokraten auf 18 Prozent. Das ergab die jüngste Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov. Zwar verkleinern die Genossen damit den Rückstand auf die zweitplatzierte AfD (22 Prozent). Doch selbst wenn die Aufholjagd weitergeht: Die SPD wird in den zweieinhalb Wochen bis zur Bundestagswahl am 23. Februar die CDU nur schwerlich einholen. Die Christdemokraten behaupten stabil die Führungsposition (29 Prozent).

Spagat zwischen Abgrenzung und Nähe

Damit steckt die SPD in der Bredouille: Einerseits muss sie sich abgrenzen von der Union, um Wähler zu gewinnen. Andererseits muss sie Schnittmengen aufzeigen, um sich als Juniorpartner für die nächste Regierungskoalition unter CDU-Führung zu empfehlen. Die SPD wird die Wahl aller Voraussicht nach nicht gewinnen, das weiß auch Scholz. Es geht nicht mehr ums Kanzleramt, es geht nur noch um die Regierungsbeteiligung. In diesem Spagat ist die SPD gefangen: draufhauen, aber bitte nicht zu doll.

Scholz schafft die Balance. In Esslingen gibt er sich nahbar, posiert für Selfies, stellt sich den Fragen der Bürger. Antwortet ruhig, sachlich, besonnen. Skizziert das SPD-Programm für die nächsten vier Jahre. Zum Beispiel zur Migration: »Wir brauchen mehr Zuwanderung in den Arbeitsmarkt«, betont Scholz. »Aber weniger irreguläre Einwanderung.«

Lieber mit Europa als allein

Trotzdem stimmte die SPD im Bundestag zweimal gegen die Vorschläge der Union für ausnahmslose Zurückweisungen, stationäre Grenzkontrollen, erweiterte Bundespolizeirechte und ausgesetzten Familiennachzug. Sie will lieber die EU-Regeln umsetzen: Schutz der europäischen Außengrenzen, lückenlose Registrierung von Flüchtlingen, Rückführung in sichere Herkunfts- und Transitländer.

Im Esslinger Neckar Forum erntet der Vorschlag Applaus, in der deutschen Bevölkerung nicht. Die Mehrheit der Deutschen will die Verschärfung der Migrationspolitik. Das zeigt das ZDF-Politbarometer. Sogar die meisten SPD-Wähler unterstützen den CDU-Asylkurs. Die SPD macht Politik gegen ihre Wähler.

Versprechen an arbeitende Mitte

Scholz will stattdessen mit finanziellen Wohltaten punkten: Er verspricht 15 Euro Mindestlohn, niedrigere Steuern und sichere Renten. Damit adressiert die SPD ihre Kernklientel: die arbeitende Bevölkerung, ihren Wunsch nach wachsendem Wohlstand, ihre Angst vor sozialem Abstieg. Dieser Punkt geht an die SPD. Denn die geplanten Steuersenkungen der Union – da geben Prognosen Scholz Recht – begünstigen vor allem Unternehmer und Gutverdiener.

Trotzdem ist Scholz’ Geldsegen kein Kassenschlager. Denn auf die Frage nach der Gegenfinanzierung bleibt er eine überzeugende Antwort schuldig. Der deutschen Wirtschaft droht Rezession das dritte Jahr in Folge. Viele Firmen wandern ab ins Ausland wegen hoher Sozial- und Energiekosten, zu wenig Fachkräften und zu viel Bürokratie. Scholz will zwar gegensteuern mit der Lockerung der Schuldenbremse, staatlicher Sanierung der Infrastruktur und Investitionshilfen für die Wirtschaft. Doch das wäre Aufschwung auf Pump und ginge auf Kosten künftiger Generationen.

Sozi-Genosse gegen Finanz-Lobbyist

Den Gegensatz Scholz/Merz macht der Kanzler an zig Stellen auf: Hier der Genosse, der die arbeitende Mitte stärkt; dort der Finanz-Lobbyist, der die Reichen noch reicher machen will. Hier der beständige Friedenskanzler, der Deutschland aus dem Ukraine-Krieg raushält; dort der unzuverlässige Feuerkopf, der bei der Taurus-Frage wackelt. Hier der gestandene Regierungschef, dort der Zweitplatzierte hinter Merkel mit weniger Praxiserfahrung als jeder Dorfbürgermeister.

In Esslingen geht die Rechnung auf. Die Versprechen ziehen. Die Gäste im Neckar Forum glauben an Scholz. Was ihm Hoffnung gibt, will ein Besucher wissen. »Wir haben Probleme«, räumt der Kanzler ein. »Aber die können wir lösen, wenn wir gemeinsam nach vorn marschieren.«

Scholz will auf den Tisch hauen

Ob sie das draußen im Land auch so sehen, ist allerdings fraglich. Scholz hat seine Chance bekommen – und vertan. Warum sollte er es beim zweiten Mal besser machen? Nach dreieinhalb Jahren Ampel-Regierung ist die irreguläre Zuwanderung stark, die Wirtschaft schwach und der Ukraine-Krieg ungebremst. Zwar kann die Koalition Erfolge vorweisen: Gaskrise gemeistert, Inflation gedrosselt, Bundeswehr gestärkt. Doch in Erinnerung bleibt der ständige Ampelstreit um Atomausstieg, Wärmepumpe, Kindergrundsicherung. Das gibt Scholz selbst zu. »Künftig werde ich nicht mehr nur hinter der Tür auf den Tisch hauen«, gelobt er. »Sondern auch davor.«

Doch trauen die Menschen Scholz die Wende zu? In der Vergangenheit gab der Hanseat sich meist zugeknöpft, maulfaul und zaghaft. Die Bürger hätten sich stattdessen mehr Volksnähe, Klartext und Führungsstärke gewünscht. In Esslingen zeigt er all diese Qualitäten – doch womöglich zu spät. Als Kanzler wollen Scholz laut ZDF-Politbarometer nur 16 Prozent der Deutschen – das sind halb so viele wie bei Merz (31 Prozent).

Derartige Einwände kontert Scholz selbstsicher: »Was zählt, ist nicht die Umfrage im Voraus, sondern die Abstimmung am Wahltag.« Scholz setzt auf eine Zukunft voller Aufbruch, Solidarität und Zuversicht. Ob die Bürger auf eine Zukunft mit Scholz setzen, zeigt sich am 23. Februar. (GEA)