BERLIN/REGENSBURG. Der Mann ist ganz nach dem Geschmack des Kanzlers. »Also, ers’ma will ich ma’ sagn«, berlinert er los: »Die SPD jewinnt die Wahl.« Olaf Scholz grinst. Er freut sich über jeden Zuspruch in diesen Tagen, in denen seine Partei in den Umfragen wie festgetackert bei etwa 15 Prozent verharrt. Es geht mal leicht rauf, dann wieder etwas runter. Aber mehr ist gerade nicht drin, da kann sich der Spitzenkandidat abrackern, wie er will. In diesem Fall tut er es im Klubhaus in Ludwigsfelde. Die Mittelstadt liegt rund elf Kilometer südlich von der Stadtgrenze Berlins und gehört zu seinem Wahlkreis. Ludwigsfelde stand vor gut vier Jahren am Beginn einer besonderen Geschichte. Sollte die sich wiederholen, bleibt Scholz im Amt. Besonders gut sind seine Chancen derzeit aber ehrlicherweise nicht. Auch, weil sich der Kandidat selbst im Weg steht.
Es ist der 30. Oktober 2020. Olaf Scholz wird auf der SPD-Wahlkreiskonferenz im Klubhaus Ludwigsfelde zum Direktkandidaten für den Wahlkreis 61 gewählt. Die Corona-Pandemie tobt, die Genossen in der schicken Mehrzweckhalle tragen Masken. Scholz hat ein schwarzes Ungetüm vor dem Gesicht, der damalige Vizekanzler und Finanzminister bekommt 92 von 98 gültigen Stimmen. »Wir gratulieren Olaf und freuen uns auf den gemeinsamen erfolgreichen Bundestagswahlkampf 2021«, heißt es seinerzeit bei der SPD.
»Kann man sich jetzt auf die Worte von Herrn Merz verlassen?«
Die Partei steht da in den Umfragen bei 15 Prozent. Genau wie heute. Der Rest ist bekannt: Bei der Bundestagswahl 2021 holt sie 25,7 Prozent der Stimmen und Scholz wird Kanzler. Damals allerdings hieß sein politischer Gegner Armin Laschet. Der CDU-Mann leistete sich im Juli 2021 mit seinem »Ahrtal-Lacher« einen schweren Patzer und Scholz hatte zweieinhalb Monate Zeit, um die Umfragen noch zu drehen. Diesmal ist die Zeit viel knapper und Scholz hat es mit Friedrich Merz zu tun. Der brilliert zwar auch nicht, hält seine CDU aber in den Umfragen bei 30 Prozent. Selbst den Optimisten in der SPD fehlt die Überzeugung, dass Scholz das noch aufholen kann.
Eine Chance gab es. Am Freitagabend, dem letzten Tag im Januar, flackert nach der für Merz maximal verunglückten Abstimmung mit der AfD über das Zustrombegrenzungsgesetz kurz Hoffnung auf. Olaf Scholz hört der Debatte im Bundestag stoisch zu, sein Fraktionschef Rolf Mützenich erinnert Merz derweil mit biblischen Worten (»Tor zur Hölle«) an die Lehren aus Deutschlands dunkler Geschichte. Auf der Regierungsbank liegt ein Exemplar der Merkel-Biografie »Freiheit«. Die Kanzlerin hat den AfD-Kurs ihres Nach-Nach-Nachfolgers an der CDU-Spitze gerade heftig kritisiert, eigentlich ein Tabubruch mitten im Wahlkampf. Die Debatte im Bundestag zieht sich, Scholz lässt reihenweise Termine in Bayern absagen. Aber dann kann er raus aus Berlin, mit knapp 90 Minuten Verspätung tritt er im Regensburger Marinaforum nahe der Donau auf.
Bildschirme tauchen die Bühne in rotes Licht. Scholz, schwarzer Anzug, weißes Hemd ohne Krawatte, wie meistens also, zeigt mit seinen ersten Sätzen, wie er das Chaos nutzen gedenkt, das der Oppositionsführer am Nachmittag verursacht hat. An diesem Freitag Ende Januar scheint es für einige Augenblicke so, als könnte es doch noch einmal so kommen wie schon 2021. Der dümpelnde Wahlkampf der SPD hat endlich ein Thema. Eines, mit dem sich die müden Genossen schon immer mobilisieren ließen: Es geht gegen Rechtsaußen, ganz in der antifaschistischen Tradition der ältesten deutschen Partei.
"Herr Merz hat sich verzockt. Aber das ist gar nicht das Schlimmste. Das Schlimme ist, dass er gezockt hat. Er hat Unfrieden und Unsicherheit in unserem Land gestiftet – für nichts", schimpft Scholz. Wie zuvor Merkel wirft er dem Herausforderer vor, den Konsens verletzt zu haben. Keine Zusammenarbeit mit den Rechten, das war bislang die Verabredung im Parlament. Merz selbst hat das im November bekräftigt. Nachdem er einen folgenlosen Entschließungsantrag mit Stimmen der AfD durchbrachte und beim Zustrombegrenzungsgesetz die Unterstützung der Rechtspopulisten in Kauf nahm, wirft Scholz ihm nun Tabu- und Wortbruch vor. »Kann man sich jetzt auf die Worte von Herrn Merz verlassen?« Diese Frage stellt er in Regensburg, er stellt sie in Ludwigsfelde, er stellt sie bei den TV-Duellen. Der SPD-Politiker hofft, dass die Wählerinnen und Wähler niemandem ihre Stimme geben, der unzuverlässig ist, der sein Wort nicht hält, der lügt.
Heute, zwei Wochen später, weiß man, dass diese Hoffnung wohl getrogen hat. Umfragen belegen, dass Merz’ wildes AfD-Manöver der Union zwar nichts genützt, ihr aber auch nicht geschadet hat. Schlimmer für Scholz ist, dass seine SPD nicht profitieren kann. Wie ein Tanker im Packeis steckt die Partei in den Umfragen fest – so ein treffendes Bild, das in Berlin derzeit oft bemüht wird. Gleich zu Beginn seiner Regierungszeit hatte Scholz intern die Parole ausgegeben: »Wir regieren so, dass wir nach vier Jahren nahtlos weiterregieren können.« Die Ampel zieht zunächst passabel mit, aber dann bekommt die Geschlossenheit Risse. Der Streit nimmt zu, am 6. November schmeißt Scholz Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) aus dem Kabinett und besiegelt damit das Ampel-Aus. Er habe, heißt es in seinem Umfeld, bis zuletzt gedacht, dass man das noch mit der Zusammenarbeit noch hinbekommen könne, wenn nur alle die Nerven bewahren. Eine folgenreiche Fehleinschätzung. Und es ist nicht das erste Mal, dass er sich für größer hält, als er es in Wahrheit ist.
Rückblick auf den Sommer 2017. Scholz ist Bürgermeister der Hansestadt Hamburg und Gastgeber des G20-Gipfels. Die Chefs der 20 wichtigsten Industrieländer kommen an die Elbe, unter ihnen US-Präsident Donald Trump in seiner ersten Amtszeit. Es soll ein schönes Treffen werden, mit tollen Bildern unter anderem aus der frisch eröffneten Elbphilharmonie. Doch dann zerlegen Demonstranten, Aktivisten, Störer und linksextreme Gewalttäter aus zahlreiche Ländern Teile der Innenstadt, es kommt zu Bränden und Plünderungen, viele Menschen werden verletzt.
»Das mit den Exporten klappt gerade nicht so doll. Das wird auch wieder«
Vor dem Gipfel hatte Scholz das brisante Treffen noch mit dem Hamburger Hafengeburtstag verglichen, sich lustig gemacht und gedacht, er habe die Sache im Griff. Nachdem das Schanzenviertel brennt, versucht er es zunächst mit Beschwichtigung. Am Ende muss er sich der politischen Debatte beugen, die über ihn hinwegfegt. Die Hamburger haben ihn bis dahin für einen Macher gehalten, doch damit ist es nun vorbei. Scholz tritt verstimmt die Flucht nach vorne an, schielt auf Berlin und wird nach der Bundestagswahl 2017 von Merkel zum Finanzminister und Vizekanzler gemacht.
Beim Ampel-Aus schätze er die Lage ebenfalls falsch ein. Von Anfang an war Scholz der Meinung, dass die Regierung mit ihm als Kanzler »nach Hause geht«, wie er es einmal ausdrückte. Als der Traum dann platzte, zeichnete Scholz zwar das Bild des Machers. Desjenigen, der die Regierung aus freien Stücken beendete, um Schlimmeres vom Volk abzuwenden. Doch die Menschen hatten da schon längst einen anderen Eindruck vom Kanzler. Sie erlebten das Chaos vor dem Ampel-Aus mit und wollen nun weg davon. Weg vom Dauerstreit, mit dem niemand so sehr verbunden ist wie der Chef, der Ampel-Kanzler, wie Olaf Scholz.
Dabei kann er es ja eigentlich. Bei den »echten Menschen« komme er weit besser an, als bei den Journalisten in Berlin, sagt Scholz oft, und so ganz falsch scheint das nicht zu sein. In Regensburg sind Bürger aus dem Schwarzwald an die Donau gereist, auch aus Sachsen sind Gäste da. »Hallo, Herr Bundeskanzler«, reden sie Scholz an, oder »lieber Genosse Olaf Scholz«. Einer sagt: »Ihr hattet ja ne schwere Zeit in der Regierung« und Scholz freut sich: »Das ist ja mal was Nettes«, antwortet er.
Im Klubhaus Ludwigsfelde hat er bereits eine lange Bundestagssitzung hinter- und einen weiteren Wahlkampfauftritt in Cottbus noch vor sich. Dazwischen laufen die Regierungsgeschäfte weiter, es sind gerade sehr lange Arbeitstage. Aber Scholz wirkt frisch, er scheint neue Energie aus den Begegnungen mit den Menschen zu ziehen, die ihn wieder zum Kanzler wählen sollen. Der Saal ist voll, es sind auffallend viele junge Menschen gekommen. »Hallo, ich hoffe, Ihnen geht’s gut?«, fragt eine Jungwählerin. »Joh«, sagt Scholz und grinst. Warum sie die SPD wählen soll, wo doch die Wirtschaft gerade den Bach runtergeht, fragt die junge Frau weiter. »Das mit den Exporten klappt gerade nicht so doll. Aber das gibt es immer wieder. Das wird auch wieder«, antwortet Scholz, und vielleicht übertreibt er es da gerade mit der Volkstümelei, ist sich seiner Sache mal wieder zu sicher. Die Frau vor ihm macht sich Sorgen um ihre Zukunft. Harte Fakten wären da wohl angebrachter als ein beschwichtigender Kuschelkanzler.
Beim Mindestlohn bleibt er unnachgiebig. Eine Frau, sie stellt sich als Müllermeisterin vor, hält die angepeilten 15 Euro für zu hoch. Die Menschen müssten mit ihrem Lohn zurechtkommen, sagt er und bekommt dafür einigen Beifall. Der sogar noch lauter ist, als er seine Haltung verteidigt, keine weitreichenden Raketen an die Ukraine zu liefern.
In die Kategorie Selbstüberschätzung fällt auch die Sache mit dem »Hofnarren«. So nennt Scholz bei einem privaten Empfang den schwarzen Berliner Kultursenator Joe Chialo (CDU). Ein Magazin konstruiert daraus Tage später journalistisch fragwürdig einen rassistischen Vorfall. Der Vorgang ist fast zwei Wochen her, der Betroffene hat sich damals nicht zu Wort gemeldet. Chialo sagt jetzt, er halte den Kanzler nicht für einen Rassisten, ergänzt aber: »Daran, dass seine Worte herabwürdigend und verletzend waren, ändert dies jedoch nichts.«
Wer Scholz von anderen Veranstaltungen her kennt, zweifelt nicht an dem Ablauf. Natürlich ist der Kanzler kein Rassist. Aber in lockerer, womöglich weinseliger Runde macht er gerne mal einen Spruch. Blöd nur, wenn andere den aus guten Gründen nicht so witzig findet wie er. »Fritze Merz erzählt gern Tünkram«, ist auch so eine Äußerung. Scholz reagierte damit im Dezember auf seinen Herausforderer. Das Wort kommt aus dem Plattdeutschen und bedeutet so viel wie »dummes Zeug«. Es wird von den Einheimischen mit einem wohlwollenden Augenzwinkern verwendet, aber Mundart funktioniert am besten in vertrauter Runde und nicht vor einer Fernsehkamera. Ein Kanzler sollte das wissen. (GEA)