WIESBADEN. Im Moment seines Triumphs legt die stärkste Konkurrentin ihren Arm auf seine Schulter. Robert Habeck und Annalena Baerbock strahlen im Licht der Schweinwerfer, ein Meer aus Beifall zu ihren Füßen. 96,5 Prozent. Das ist die Zustimmung der Grünen für ihren Kanzlerkandidaten. »Und wenn es uns ganz weit trägt, dann auch ins Kanzleramt«, hatte er den 800 Delegierten davor in seiner Bewerbungsrede zugerufen. Das ist das Ziel, dafür tritt Habeck an. »Ich will Verantwortung suchen und tragen, mit der Erfahrung, die ich gesammelt habe.«
Die Prozentzahlen außerhalb des grünen Kosmos des Wiesbadener Parteitags sind andere, viel kleiner. Elf Prozent, zwölf Prozent sind die Werte aus den Umfragen. Kanzlerkandidat? Damit die Differenz zwischen diesem Anspruch und dem Wahltag in drei Monaten nicht grabentief wird, will Habeck die Gesetze des Wahlkampfes außer Kraft setzen. Wahlkampf heißt Parolen, Zuspitzung, Deftigkeit und Härte. Der Frontmann der Grünen setzt auf Zuhören, Zimmerlautstärke, Ausredenlassen und Wärme. Sein erstes Wahlkampfvideo hat er an einem Küchentisch aufgezeichnet. Den Leuten hat er angeboten, dass er zu ihnen nach Hause kommt in ihre Küche. Tausende Einladungen sind bei den Grünen bereits eingegangen.
Am Küchentisch entstehen andere Gespräche als in Medien, WhatsApp-Gruppen, auf Facebook oder Twitter. Wenn sich Menschen gegenübersitzen und in die Augen schauen können, dann gehen sie meistens gut und höflich miteinander um. Habeck will diese Atmosphäre in das Große übertragen. »Ich will nicht als der Besserwisser dem Land sagen, was alle zu denken haben.«
Schon länger macht er sich Gedanken, wie die Gesellschaft wieder zusammenfindet, statt über die Krisen der Zeit (Krieg, Klima, Wirtschaft) in lautem Zank auseinanderzufallen. »Wer könnte Menschen nicht verstehen, die sagen, ich kann nicht mehr«, sagte Habeck in seiner Rede. Resignation und Rückzug sieht er auf dem Vormarsch, die Freiheit durch Putins Angriff, die Erhitzung des Planeten und stärker werdende Radikale bedroht. Auch er selbst hatte überlegt, sich zurückzuziehen. So erzählt er den Grünen. Im Sommer sei das gewesen. Schon damals ging in der Ampelkoalition mit SPD und FDP nichts mehr, das Regieren wurde zur Qual. »Die drei Jahre haben auch etwas mit mir gemacht«, gestand der Wirtschaftsminister ein. Es waren die Jahre der Zeitenwende nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine, dem Krieg in Osteuropa folgten Inflation und Wachstumsschwäche, die Deutschland bis heute nicht abgeschüttelt hat.
Als Wirtschaftsminister war Habeck zunächst der Liebling der Bosse und Unternehmer. Sie schwärmten darüber, dass er so gut zuhöre und die Dinge pragmatisch anpacke. Der 55-Jährige flog durch die Welt, um Ersatz für russisches Gas aufzutreiben und schob die Hürden für den Ausbau der Erneuerbaren Energien beiseite. Doch von den frühen Erfolgen redet heute keiner mehr. Das Ansehen des Wirtschaftsministers in der Wirtschaft ist noch schwächer als die deutsche Konjunktur.
»Ich will nicht als der Besserwisser dem Land sagen, was alle zu denken haben.«
Nur Minuten nach seiner Wahl sendete der Verband der Familienunternehmen eine Pressemitteilung an die Redaktionen. »Rezessionsminister will Kanzler werden«, lautete die Betreffzeile. Verbandspräsidentin Marie-Christine Ostermann beklagte eine desaströse Bilanz und warf Habeck vor, seine Aufgabe bis heute nicht verstanden zu haben.
In seiner Rede spielte die eigene Leistung als Minister der Ampelkoalition nur eine Nebenrolle. Rezession, Firmenpleite, Autokrise? Fehlanzeige. Ampelbruch, Lindner-Betrug, Minderheitsregierung? Nicht der Rede wert. Habeck will nach vorne schauen, statt zurück. Um die Konjunktur anzuschieben, soll sich der Staat künftiger stärker verschulden, um in die Energiewende, Schulen, Straßen und Schienen zu investieren. Das ist Habecks Antwort. Die Grünen und ihr K-Kandidat wollen die Schuldenbremse reformieren. Alles andere wäre in ihren Augen ein Versündigen an der jungen Generation. Ob es dafür nach der Wahl die nötige Zweidrittelmehrheit im Bundestag gibt, ist offen.
Neben der Aufweichung der Schuldenbremse rücken die Grünen ökonomisch insgesamt nach links. Der Parteitag hat die Wiedereinführung der Vermögensteuer, eine höhere Erbschaftsteuer und eine Anhebung des Mindestlohns auf 15 Euro beschlossen. Allzu radikale Positionen des linken Flügels wurden aber hinter den Kulissen eingenordet, gleiches gilt für die Asylpolitik. Begrenzung der Zuwanderung ja, aber generelle Zurückweisungen an den Grenzen nein. Der Streit um die richtige Migrationspolitik tobt auch bei den Grünen. Die Verschärfung der Gesetze, die die Grünen in der Ampel mitgetragen haben, nehmen Habeck viele linke Grüne übel.
Doch der Wille, nach außen Einigkeit zu demonstrieren, war in Wiesbaden stärker als die Lust auf inhaltliche Auseinandersetzungen. Der Robert sollte ein gutes Ergebnis bekommen. »Keiner kann im Sturm das Ruder so herumreißen wie Robert Habeck und zugleich bei Rückenwind die Segel richtig setzen«, schwärmte Außenministerin Annalena Baerbock, die den Saal für ihren einstigen Konkurrenten anheizte. Teil des innerparteilichen Friedens ist es, dass sich Baerbock als Nummer 2 in den Dienst der Sache stellt. Vor drei Jahren war es genau andersherum, nun tauschen die beiden die Rollen. Hatte sie ihn vor dem zurückliegenden Wahlkampf abgekanzelt, kam Baerbock auf dem Parteitag aus dem Loben gar nicht mehr heraus. »Ich freu’ mich drauf, hinter dir, neben dir, und wenn der Wind so richtig eisig wird, auch vor dir im Wind zu stehen.«
Als Baerbock die Partei in den Wahlkampf 2021 führte, lagen die Grünen in den Umfragen bei über 20 Prozent. Heute sind sie nur noch halb so stark. Den Delegierten erzählte Habeck eine Geschichte, warum er sich trotzdem für sie in die Kampagne stürzt. Es ist eine Geschichte, die man am Küchentisch erzählt. Als er im Sommer in den Monaten des Zweifels mit seinem Sohn baden war, erinnerte ihn dieser daran, wie er ihm einst das Schwimmen beigebracht hatte. »Du musst dich bewegen, sonst gehst du unter«, sagte Habeck damals zu seinem Kleinen. Heute ist er es, der strampeln muss. (GEA)