TÜBINGEN. Weniger ist mehr. Für unser Sozialleben während der Pandemie gilt das allerdings nur bedingt. Klar ist, dass sich soziale Kontakte in Präsenz während dieser Zeit deutlich reduziert haben, dafür aber intensiver wurden. Warum intensiver nicht gleich besser ist, weiß Soziologe Dr. Sebastian Moser. Dem GEA sagt er, wie sich unser Verhalten während Corona verändert hat, was wir aus der Pandemie-Zeit lernen können und gibt einen Ausblick auf die Zeit nach den verpflichtenden Schutzmaßnahmen.
GEA: Herr Dr. Moser, wie hat sich unser Sozialverhalten in mehr als zwei Jahren Corona-Pandemie verändert?
Dr. Sebastian Moser: Ich würde sagen, dass das schwer zu verallgemeinern ist. Wir haben ja erlebt, dass sich die Menschen in der Pandemie nicht alle gleich verhalten haben. Wenn wir an Großveranstaltungen wie die sogenannten Querdenker-Demos denken, ist das ein gutes Beispiel dafür, dass es einen Teil von Menschen gegeben hat, der während der Pandemie die Sozialkontakte noch intensiviert hat. Diese Veranstaltungen sind das eine Extrem – die Menschen gehen raus auf die Straße. Auch wenn es nur ein kleiner Teil war. Das andere Extrem ist der Einschluss in den eigenen vier Wänden: Einigeln und die strikte Vermeidung von körperlicher Kopräsenz. Letztendlich würde ich sagen, dass sich während der Pandemie eben genau diese beiden Extrempole deutlich verstärkt haben.

Es wird viel über negative Folgen der Corona-Pandemie auf das Sozialleben berichtet. Gibt es auch Positives?
Moser: Insgesamt kann man sagen, dass sich die Sozialkontakte deutlich reduziert haben. Das war ja auch die Intention der Restriktionen. Gleichzeitig bedeutet das, dass in die weniger gewordenen Kontakte mehr Zeit investiert worden ist – auch emotional. Sowohl im positiven wie auch im negativen Sinne. Es scheint so zu sein, dass sich in der Pandemie für jeden pandemische Referenzpersonen herauskristallisiert haben, mit denen man mehr Zeit verbracht hat.
Wie genau äußern sich positive und negative Folgen der Kontaktintensivierung?
Moser: Wenn ich jetzt an Negatives denke, dann ist da ein Anstieg an häuslicher Gewalt vor allem gegen Frauen und Kinder. Ich möchte jetzt nicht sagen, dass in jedem ein potenzieller Gewalttäter schlummert, aber das sind Mechanismen, die durch so etwas wie Einschluss und Isolation ausgelöst werden können. Wenn man positive Aspekte finden möchte, dann die Intensivierung der Kontakte. Dadurch entstanden Möglichkeiten, Menschen aus dem Umfeld neu und anders kennenzulernen. Positiv ist auch, dass die Menschen gelernt haben, mehr auf sich und ihre Gesundheit zu achten. Wenn es im Hals kratzt, dann macht man eben einen Test. Und wenn er positiv ist, dann gönnt man sich etwas mehr Ruhe. Die Pandemie hat uns dazu genötigt, aufmerksamer auf unseren Körper zu hören.
Es kommt am Sonntag zur Aufhebung fast aller noch bestehender Corona-Schutzmaßnahmen. Wie ordnen sie diesen Schritt ein?
Moser: Ich selber lebe in Frankreich und dort sind die Schutzmaßnahmen schon längere Zeit aufgehoben. Aus der Perspektive als sozialwissenschaftlicher Beobachter, aber auch als Selbstbeobachter sehe ich, dass sich die Menschen recht schnell wieder umstellen. Sie gehen beispielsweise ins Restaurant, ohne den Impfausweis vorzeigen zu müssen. Das irritiert im ersten Moment. Man hat das Handy am Eingang schon gezückt, wird dann aber nicht mehr gefragt. Bei den Masken finde ich auffällig, dass, obwohl es keine Pflicht mehr gibt – auch in Deutschland schon an einigen Stellen – trotzdem noch vereinzelt Menschen diese tragen. Ich denke, dass Masken vereinzelt weiterhin nicht fallen werden, weil die Menschen jetzt eben selber entscheiden müssen: Möchte ich das Risiko einer Infektion eingehen und stelle ich ein Risiko für die anderen dar. Es ist eine Phase, in der Eigenverantwortung wieder mehr zugeschrieben wird. Beurteilen, ob dieser Weg richtig ist, kann ich nicht. Das steht mir auch nicht zu.
Woran liegt es, dass Menschen die Maske weiter tragen?
Moser: Ich glaube, dass es verschiedene Typen gibt und die Motivationen unterschiedlich sind. Das mag eine diffuse Angst sein, das mag Gewohnheit sein. Man kann nicht sagen, das ist genau aus diesem einen Grund so. Letztendlich werden sich die Verhaltensmuster mehr ausdifferenzieren. Dort, wo nicht mehr von oben nach dem Motto »du musst« gesteuert wird, werden mehr Möglichkeiten für »du kannst« frei.
Umarmungen, Händeschütteln und große Personenansammlungen waren lange tabu. Gibt es Dinge, an die wir uns nach dem Wegfall von Einschränkungen schneller wieder gewöhnen?
Moser: Das kann man pauschal nicht sagen, denn auch während der Pandemie haben sich Menschen nicht gleich verhalten. Da braucht man sich nur das Beispiel der britischen Regierung anschauen. Da hat es auch Partys gegeben. Es hat auch Zusammenkünfte gegeben, die im Verborgenen stattgefunden haben, bei denen sich Personen körperlich nahegekommen sind. Es gab Menschen, die weiterhin die Hände geschüttelt haben, oder hier in Frankreich die Begrüßung mit dem Wangenkuss. Aber es sind gerade die Maßnahmen gewesen, die Erinnerungen an all das, was wir gerne tun würden, wach gehalten haben. Es wurde uns ins Gedächtnis gerufen: »du darfst nicht«. Aber das »du darfst nicht«, ist ja das Wachhalten von dem, was man vermisst.
ZUR PERSON
Soziologe Dr. Sebastian Moser ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Eberhard Karls Universität Tübingen. Von November 2020 bis Februar 2021 gab er mit seinem Kollegen Tobias Schlechtriemen die Blog-Reihe »Sozialfiguren der Corona-Pandemie« am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen heraus und beschäftigte sich mit Erfahrungs- und Problemlagen während der Corona-Zeit. (kil)
Gab es Personengruppen, die besonders von den Schutzmaßnahmen getroffen wurden?
Moser: Denken Sie zum Beispiel an Kinder, an Jugendliche, an junge Erwachsene. Mein jüngster Sohn war vor der Pandemie noch viel zu jung, um ins Kino zu gehen. Also hat er das nicht vermisst. Er wusste gar nicht, was das ist. Ein anderes Beispiel sind die Studierenden, die während der Zeit an die Uni gekommen sind. Eigentlich sind sie ja zu Hause geblieben. Sie kennen die Universität weniger mit Veranstaltungen, bei denen man körperlich anwesend ist. Zum Großteil war Uni eben: Ich hänge mich hinter den Bildschirm und lasse mich berieseln. Es ist eine gesellschaftspolitische Aufgabe, die Neugierde und das Verlangen für bestimmte Dinge und Aktivitäten bei denjenigen zu wecken, die während der Pandemie in wichtigen Lebenspassagen festgesteckt sind und diese deswegen anders oder gar nicht erlebt haben.
Aus sozialwissenschaftlicher Sicht sind persönliche Kontakte extrem wichtig. Wie geht es nach dem Fall der Einschränkungen weiter?
Moser: Interessant wird sein: Welche Strategien verfolgen Leute, um Kontakte, die auf Eis gelegt wurden, wieder aufzuwecken oder machen sie das überhaupt. Hat man die neue Qualität von einzelnen wenigen Beziehungen zu schätzen gelernt und bleibt bei einer Reduktion oder ruft man den alten Freund, den man schon zwei Jahre nicht mehr gesehen und gesprochen hat, wieder an und sagt: Lass uns mal treffen. Das sind spannende Fragen. Allerdings lassen sie sich heute noch nicht beantworten. (GEA)