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Psychologe warnt vor Köderversuchen fundamentalistischer islamistischer Gruppen

Ahmad Mansour spricht im Interview über Islamisten, die versuchen, junge Menschen auf ihre Seite zu ziehen.

Kämpft gegen die Radikalisierung der Muslime in Deutschland: der Psychologe Ahmad Mansour.
Kämpft gegen die Radikalisierung der Muslime in Deutschland: der Psychologe Ahmad Mansour. Foto: MIND PREVENTION
Kämpft gegen die Radikalisierung der Muslime in Deutschland: der Psychologe Ahmad Mansour.
Foto: MIND PREVENTION

BERLIN/REUTLINGEN. Wenn es schlecht gelaufen wäre, würde Ahmad Mansour (45) heute alles daransetzen, jegliche freiheitlich demokratische Grundordnung zu zerschlagen. Mansour wuchs als Palästinenser in Israel auf. Islamisten warben ihn an, doch ihm gelang der Ausstieg. Inzwischen lebt er seit 14 Jahren in Deutschland und arbeitet daran, dass Radikale nicht an Zuwachs gewinnen. Der Diplom-Psychologe leitet Präventionsworkshops gegen muslimischen Extremismus, forscht zu Antisemitismus in der muslimischen Community und Radikalisierung unter muslimischen Jugendlichen. Ihm zufolge ist das drängender denn je – weil Extremisten die Klaviatur jugendlicher Sehnsüchte und Kommunikationsformen perfekt beherrschen.

GEA: Herr Mansour, als Schüler sind Sie fast selbst zum radikalen Islamisten geworden. Was hat Sie angefixt?

Ahmad Mansour: Ich komme aus einer sehr patriarchalischen Familie. Mit 13 Jahren wurde ich in der Schule massiv gemobbt. Ich war auf der Suche nach Entlastung und Orientierung. Dann sprach mich ein Imam an. Er merkte, dass ich in einer Krise steckte. Er lud mich ein, kümmerte sich, schuf Bindung. Das war der Zugang zu dieser radikalen Ideologie. Viele Biografien ähneln meiner sehr. Das merke ich, seit ich in Deutschland im Bereich Extremismus-Prävention arbeite.

Warum wurde doch kein radikaler Islamist aus Ihnen?

Mansour: Ich war sehr radikal in meiner Einstellung! Ich habe keine Gewalt angewendet, aber mit Gewalt sympathisiert. Nach mehreren Jahren und auch durch mein Studium in Tel Aviv und Berlin konnte ich mich distanzieren und aussteigen.

Wie haben Sie als Islamist gedacht?

Mansour: Gedacht habe ich weniger, mehr gefühlt. Da war viel Emotion im Spiel. Ich hatte das Gefühl, zu einer Elite zu gehören und dass Gott mit mir zufrieden ist. Ich orientierte mich am Jenseits – egal, wie schwierig das Diesseits war. Ich hatte Sehnsucht nach einem Leben ohne Schmerzen, Konkurrenz und Zukunftsangst. Die Ideologie gab mir Halt. Ich war überzeugt, dass das der richtige Weg sei und wir mit unserer Gruppe irgendwann die Welt beherrschen.

Wie wollten Sie zur Weltherrschaft gelangen?

Mansour: Ich war Teil des sogenannten politischen Islams. Wir wollten Institutionen und Strukturen infiltrieren und unterwandern. Nicht mit Gewalt, sondern mit demokratischen Mitteln.

Wie ködern extremistische Strömungen heute Jugendliche?

Mansour: Nicht alle extremistischen Gruppierungen haben die gleiche Methode. Der IS etwa oder rechte Terroristen sprechen Jugendliche dort an, wo sie sich aufhalten. Sie nutzen soziale Medien, um ihnen Angebote zu machen. Die Islamisten von heute sind die besseren Sozialarbeiter. Sie kennen die Jugendkultur und vor allem erkennen sie, wer ansprechbar und in einer persönlichen Krise ist. Die Muslimbrüder versuchen, mit einer muslimischen Identität eine Alternative zum Mainstream zu bieten, die Identitären [eine vom Verfassungsschutz beobachtete fremden- und islamfeindliche Gruppierung, d. Red.] versuchen es über eine deutsche Identität. Eine kleine Gruppe Jugendlicher springt darauf an – nämlich diejenigen, die sich Abgrenzung von anderen wünschen. Das leisten Extremisten am besten. Sie machen das klarere Angebot. Unsere Demokratie dagegen lebt von Vielfältigkeit und Gleichberechtigung.

 

Welche Anwerbestrategien gibt es?

Mansour: Viele islamistische Organisationen nutzen islamfeindliche Attacken in Deutschland für sich, um Muslimen zu vermitteln: Ihr werdet hier nie akzeptiert, egal, wie deutsch Ihr Euch benehmt. Extremisten verstehen alles als Angriff auf ihre islamische Identität. Sie positionieren sich als diejenigen, die dagegen steuern. So werben sie Jugendliche. Gewaltbereite Gruppierungen sprechen vor allem jene an, die Abenteuer suchen und nicht bereit sind, die Situation zu akzeptieren.

Welche Jugendlichen sind besonders gefährdet?

Mansour: Radikalisierung kann auf verschiedenen Ebenen stattfinden: psychologisch, soziologisch, ideologisch. Ich arbeite unter anderem in Gefängnissen und treffe fast täglich Jugendliche, die sich islamistischen oder rechtsradikalen Gruppierungen angeschlossen haben. Die meisten kommen aus Familien, die nicht funktionierten, in denen es keinen Familienalltag oder keine Vaterfigur gab – zum Beispiel Flüchtlinge, die alleine nach Deutschland gekommen sind. Manche haben wie ich Mobbing und Depression erlebt oder der Übergang von Schule zu Berufsleben hat nicht funktioniert. Auch bestimmte Persönlichkeitsstrukturen wie fehlende Empathie können Ideologien attraktiv machen. Psychopathen finden Gewalt sehr attraktiv und wollen sie ausüben. Manche Kleinkriminelle wollen aus der Gesellschaft ausbrechen, landen auf der Suche nach Neuanfang im Gefängnis und werden dort von Radikalen angesprochen.

Der deutsche Prediger Pierre Vogel. Die Salafistenszene in Deutschland verzeichnet weiter großen Zulauf.
Der deutsche Prediger Pierre Vogel. Die Salafistenszene in Deutschland verzeichnet weiter großen Zulauf. Foto: SCHOLZ/DPA
Der deutsche Prediger Pierre Vogel. Die Salafistenszene in Deutschland verzeichnet weiter großen Zulauf.
Foto: SCHOLZ/DPA

In welcher Beziehung stehen Islam und Islamismus und inwiefern spielen fundamentalistische Ansichten nach Ihrer Meinung eine Rolle in muslimischen Familienalltagen?

Mansour: Den Islam gibt es und viele Auslegungen haben auch mit Islamismus nichts zu tun. Es gibt zum einen Islamverständnisse, die mehr auf Spiritualität und Individualität setzen, andere aber sind definitiv eng mit Islamismus verbunden. Sie sind es, die die Basis schaffen, an der Radikale ihre Ideologien aufbauen. Ein Islamverständnis, in dem Mündigkeit abgelehnt, Angstpädagogik betrieben, Gleichberechtigung abgelehnt und Opfer und Feindbilder geschaffen werden, ist mitverantwortlich für den Weg zur Radikalisierung.

Wie unterscheiden sich rechtsextremer und islamistischer Antisemitismus?

Mansour: Antisemitismus ist gesellschaftsübergreifend. Man findet ihn nicht nur bei Muslimen oder Rechtsradikalen, sondern auch in der Mitte der Gesellschaft und im linken Spektrum. Sei es bei dem Fall in Hamburg Ende September [nach einer Mahnwache für Israel wurde ein Mann angegriffen, d. Red.], sei es bei den Demonstrationen im Mai [auf pro-palästinensischen Kundgebungen hatte es judenfeindliche Hassparolen gegeben, d. Red.]. Für Menschen, die nicht hier sozialisiert sind, ist Hass gegenüber Israel und Juden mitunter selbstverständlich. Sie kommen aus Ländern, in denen das zum Bildungssystem gehört. Dieser Antisemitismus ist sehr selbstbewusst und teils sehr aggressiv und versucht nicht, sich zu verstecken. Der rechtsradikale und der islamische Antisemitismus teilen sich den Hass auf Juden und viele Verschwörungstheorien, die von Weltmacht fanatisieren und die sogenannte jüdische Elite zur Verantwortung zieht, wenn irgendwas in dieser Welt nicht gut funktioniert.

Jüngst berichtete der deutsche Rocksänger Gil Ofarim, dass er in einem Leipziger Hotel wegen seines Davidsterns Antisemitismus erlebt habe. Warum werden aktuell mehr Fälle von Judenfeindlichkeit publik als noch vor einigen Jahren?

Mansour:Antisemiten sind selbstbewusster und sichtbarer geworden. Sie trauen sich mehr. Das bedeutet nicht, dass es vor 20 Jahren keinen Antisemitismus gab. Damals haben die Leute ihre Ansichten stärker unterdrückt. Das hat sich verändert. Das hat mit dem Nahostkonflikt zu tun, mit den Flüchtlingen, mit der Erstarkung von AfD, Verschwörungstheoretikern und Corona-Leugnern, die sichantisemitischer Narrative bedienen. Das schafft eine gesamtgesellschaftliche Atmosphäre, in der manche das Gefühl haben, es sei legitim, antisemitisch zu denken und das auf die Straße zu tragen.

ZUR PERSON

Ahmad Mansour hat Psychologie in Tel Aviv und Berlin studiert. Er ist Geschäftsführer des Mansour-Instituts für Demokratieförderung und Extremismus-Prävention. Er leitet Workshops in Schulen und Asylheimen, arbeitet mit radikalisierten Jugendlichen in Gefängnissen und schult Polizisten und Lehrer in der Vorbeugung von linkem und rechtem Extremismus, Islamismus, Antisemitismus und der Unterdrückung von Frauen im Namen der Ehre. Unter anderem verliehen ihm für sein Engagement gegen Minderheitenfeindlichkeit der baden-württembergische Landtag und die Israelitische Religionsgemeinschaft Württemberg 2017 die Joseph-Süß-Oppenheimer-Auszeichnung. (GEA)

Angenommen, ein 15-Jähriger äußert sich im Unterricht judenfeindlich. Was sollte seine Lehrerin tun – und was auf gar keinen Fall?

Mansour: Ich möchte, dass wir Lehrer und Lehrerinnen befähigen, mit solchen Situationen gut und sicher umzugehen, pädagogische Antworten zu finden und genau solche Aussagen diskutieren und besprechen können. Die Schülerinnen und Schüler sollen zum Nachdenken gebracht werden und selbstreflektiert Aussagen wie diese hinterfragen können. Viele von ihnen denken in Schwarz-weiß-Bildern vom Judentum, Israel oder den Nahostkonflikt. Genau das kann man aber pädagogisch auflösen und man muss es auch tun, wenn wir uns in einer Welt von Toleranz und Empathie bewegen wollen. Wenn es zu judenfeindlichen Aussagen kommt, muss das zum Thema gemacht und mit den Eltern gesprochen werden. Viele Menschen sind erreichbar, man kann sie zum Nachdenken bringen. Auf gar keinen Fall darf man so etwas tolerieren und sprachlos lassen.

Wo besteht am drängendsten Handlungsbedarf?

Mansour: In den Sozialen Medien. Die dürfen keine rechtsfreien Räume sein. Wir müssen auch dort antisemitische Aussagen verfolgen und vor allem digitale Sozialarbeit betreiben.

Wie lässt sich die Anziehungskraft extremistischer Bewegungen auf Jugendliche ausschalten?

Mansour: Mit Mündigkeit. Wir müssen in Deutschland Schulen schaffen, die Jugendliche zum Mitdenken bewegen, zum Hinterfragen und zum Bilden einer eigenen Meinung. (GEA)